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Amadeus 02 - Rosignolo

amadeus02_rosignolo_1.jpgINHALT

Eine Sängerin wird nach ihrem großen Auftritt umgebracht. Der Täter, ihr Liebhaber Ferragosta, richtet sich danach selbst. Der Fall scheint eindeutig. Doch als plötzlich die Stimme der angeblich toten "Nachtigall" zu hören ist, wird bald klar: hier wurde ein hinterhältiges Spiel inszeniert, in dem alle nur als Marionetten benutzt wurden, um am Ende etwas Bahnbrechendem den Weg zu ebnen. Doch die Strippenzieher haben nicht mit Mozarts aufbrausendem Temperament und Reschs Entschlossenheit gerechnet ...


ATMOSPHÄRE

ROSIGNOLO besticht durch seine sowohl in historischer als auch akustischer Hinsicht realistisch umgesetzte Kulisse: In >WOLFER< wurden die Hörer in einen dunklen Wald geführt. Hier dagegen ist es hell, glänzend und voller Leben: das Nationaltheater, ein großer Empfang, die Reichen und Mächtigen der Gesellschaft. Hier wird mit hocherhobener Nase diskutiert und philosophiert, und natürlich gibt es auch Intrigen, Betrug und Neid. Schon vom ersten Moment an konnte ich mich gut an den Ort des Geschehens versetzen, das Durcheinander der vielen Menschen, die Musik, die angeregten Diskussionen, das alles wurde sehr lebendig umgesetzt, die Geräusche als perfekte unauffällige Hintergrunduntermalung eingebaut.


THEMEN

Thematisch werden hier Realität und Fiktion sehr gut gemixt, und Mozarts Schaffen nimmt eine wichtige Rolle in dieser Episode ein, alles dreht sich um die Musik. Und natürlich um einen Mord. Zwar ist nach der Hälfte des Hörspieles klar, worauf es hinausläuft, doch auch danach bleibt es spannend, geht in eine völlig neue Richtung, und ich möchte nichts vorweg verraten, halte mich bedeckt. Was ich aber anmerken möchte: interessant, was man daraus gemacht hat, wie Mozart darauf reagiert und wie man um die Sache herum eine solche Geschichte entspinnen konnte. Ob das zu Mozarts Zeiten bereits ein Thema war, vermag ich nicht zu sagen, doch eine Andeutung ganz am Ende stellt eine Frage, die einige Aspekte des Hörspieles sowieso in ein völlig neues Licht rückt. Ich bin gespannt, wie sich dies in den zukünftigen Folgen auswirken wird und was sich daraus entwickelt. Ein wirklich geschickt - fieser Cliffhanger, den man hier geboten bekommt!


CHARAKTERE UND SPRECHER

Was Mozart von all dem hochtrabenden Geschwätz und der Arroganz seiner Mitmenschen hält, gibt er in recht eindrucksvollen Worten wider, der Hörer darf sich auf einige Wutausbrüche und unschickliche Beleidigungen ganz im Stil des frechen Komponisten freuen. War er im ersten Teil schon recht dreist, legt er hier noch einmal einen Zacken an Schärfe zu, eine seiner ersten Beschimpfungen über den Arbeitgeber, welcher ihn vor die Tür setzte, wage ich hier gar nicht widerzugeben ;-)

Neben Mozart und Resch begegnet der Hörer hier erstmals Constanze Weber, Mozarts späterer Ehefrau, ein interessanter Nebenstrang im Rahmen der Hörspielreihe. Constanze wird gesprochen von Luisa Wietzorek, die als Schauspielerin und Synchronsprecherin schon einige Erfahrungen gesammelt hat. Sie vermag mit ihrer Stimme neben Kluckert, Knauer und Hasper gekonnt die bisher fehlende weibliche Note einzubringen und die Gruppe zu bereichern.

Auch die anderen Sprecher überzeugen in ihren Rollen. Wen ich diesmal allerdings besonders hervorheben möchte, das ist der Sprecher des Georg Tonlechner, und als ich ihn hörte, musste ich doch glatt zurückspulen und noch einmal hören, ob ich mich nicht verhört hatte: Santiago Ziesmer? Tatsache, Santiago Ziesmer! Der herzliche Inspektor Miller, der hyperaktive Steve Urkel, der freundliche SpongeBob - er kann auch ganz anders, nämlich so richtig unsympathisch und fies! Mag sein, dass er schon in anderen Rollen den Fiesling gesprochen hat, für mich war es neu, und ich war erstaunt. Und er macht es hervorragend, schon vom ersten Moment an ist der Hörer abgeneigt und fühlt sich angewidert von dieser unangenehmen Person. Ich hätte es nicht gedacht, aber Ziesmer ist richtig klasse als widerlicher Unsympath


AUFBAU

Was leider nicht ganz perfekt ist, das ist der Aufbau der Geschichte. Anfangs scheint alles offensichtlich, sodass sich in der ersten Hälfte die Frage stellt, wohin all die später folgenden Diskussionen um gänzlich andere Themen bitte hinführen sollen und was das mit der Sache zu tun hat. Als dies dann offenbar wird, steigt die Spannung etwas an, bis hin zu einem ziemlich actionlastigen (und von den Effenten her wieder hervorragend umgesetzten) Showdown. Dazwischen aber gab es einige Längen, die zwar nicht gravierend ins Gewicht fallen, leider aber dafür sorgen, dass das Hörspiel nicht ganz so dicht gestrickt ist und der Hörer hier und da einmal kurz gedanklich abschweifen könnte.


FAZIT

Nach dem grandiosen Auftakt mit >WOLFERL< hatte ich natürlich sehr hohe Erwartungen, die nicht ganz aber immerhin fast erfüllt wurden. Die Story ist sehr schön umgesetzt, die Sprecher leisten professionelle Arbeit, neue Handlungsstränge für weitere Fortsetzungen werden gelegt, Musik und Geräusche bilden eine harmonische Einheit mit den Dialogen und dem Erzähler. Trotz kleiner Längen im Mittelteil ist ROSIGNOLO angenehm zu hören und weiß die Hörer auf hohem Niveau zu unterhalten.

Wertung: 12 von 15 zukunftsweisende Aufzeichnungen

SaschaSalamander 22.09.2012, 09.05 | (0/0) Kommentare | PL

Vakuum

wagner_vakuum_1.jpgINHALT

Kora ist im Gefängnis und erhält eine seltsame Botschaft. Hannes geht regelmässig auf den Golfplatz und kann nach einem schrecklichen Vorfall seiner besten Freundin nicht mehr in die Augen sehen. Tamara ist adoptiert und will etwas über ihre leibliche Mutter erfahren. Alissa und Leon sind Geschwister, verbunden durch ein tragisches Ereignis, doch dieses Wochenende wollen sie nichts als mit ihren Freunden ein gemütliches Picknick zu veranstalten. Doch um 15.07 geschieht etwas, mit dem keiner von ihnen gerechnet hätte, und plötzlich sind sie alle auf sich allein gestellt. Sie begeben sich auf die Suche, finden einander und versuchen gemeinsam herauszufinden, was geschehen ist und warum das Schicksal gerade sie zusammengeführt hat. Dabei müssen sie sich ihren größten Ängsten stellen und lernen, dass sie nur gemeinsam etwas erreichen werden.


GENRE, THEMEN


Die Autorin verwendet archetypische Symbole, um ihre Geschichte auf einer sehr intimen Ebene zu erzählen. Daher fallen mir sofort einige Filme ein, etwa LANGOLIERS, FLATLINERS, THE FOG, DIE WAND, THE STAND und andere, die mit ähnlichen Elementen spielen und die Urängste der Menschen aufgreifen. Doch statt einen Horrorroman für Erwachsene zu schreiben, richtet sie sich hier an Jugendliche: Identitätsfindung, Ängste und der Umgang mit inneren und äußeren Konflikten. Leser der Zielgruppe werden sich sehr gut in einem oder mehreren der Protagonisten wiederfinden, ja vielleicht sogar mit dem gleichen Problem zu kämpfen haben. Um nicht zu spoilern, kann ich leider die Themen nicht aufgreifen, doch soviel kann ich sagen: die Gesellschaft tabuisiert, und die Menschen glauben daher "stark" sein zu müssen, statt um Hilfe zu bitten, zu weinen, zu trauern oder einfach nur darüber zu reden. Hier wird Jugendlichen Mut gemacht, offen zu sein und die Probleme zu teilen statt mit ihnen alleine zu bleiben. Spannung, Drama, Unterhaltung und eine wichtige Botschaft.

Und was mich schmunzeln lässt: in jedem ihrer Bücher ist versteckt oder direkt ein Genderthema eingebaut, in diesem Fall die beiden Mütter eines Nebencharakters. Ich mag das, dadurch halten diese Themen immer mehr Einzug im Bewusstsein, werden als etwas Alltägliches dargestellt, das gesondert zu benennen gar nicht erforderlich ist und daher nur als Erwähnung am Rande einen Platz erhält. Sehr schön. Danke :-)


SPRACHE

Wie bereits gesagt, greift Wagner besonders auf Symbole (Farben, Objekte, Geräusche, Musik, etc) zurück, die tief im menschlichen Bewusstsein verwurzelt sind. Auch ohne die Gefahr zu benennen, zaubert sie eine Gänsehaut und sorgt für ein Gefühl der Beklemmung, Enge und Angst. Die Orte, an denen sich die Protagonisten befinden, werden greifbar, der Leser fühlt sich inmitten des Geschehens, kann umso intensiver mitfühlen und sich vor allem fragen, wie er selbst in dieser Situation gehandelt hätte.

Ein weiteres Stilmittel neben den Symbolen sind sehr viele Metaphern und Vergleiche. "Die Stille war eine Faust. Sie kam aus der leeren Kantine geschossen und schlug ihr mitten ins Gesicht" (S. 201). Die Sprache ist malerisch und detailreich. Während die Autorin in >UNLAND< und >SCHATTENGESICHT< manchmal etwas versteckt und in >MOTTENLICH< äußerst subtil vorging, ist VAKUUM dagegen sehr direkt, der Leser weiß, woran er ist. Dadurch fehlt ein bisschen von der Leichtigkeit und Interpretationsfreiheit. Andererseits ist das Buch dadurch sehr viel leichter verständlich, was bei einem solch komplexen Thema, wie Wagner es hier aufgreift, kein Nachteil ist. Im Gegenteil werden auf diesem Weg mehr Jugendliche erreicht, eignet sich das Buch sogar als anspruchsvolle aber doch verständliche Schullektüre und stellt die Grundlage für lebhafte Diskussionen.


CHARAKTERE

Die Beschreibung der Charaktere ist eines der wichtigsten Elemente in diesem Buch. Zu Beginn erfährt der Leser kaum einen Hintergrund, wird direkt in die Ist-Situation geworfen und bekommt erst nach und nach eröffnet, was die einzelnen Personen antreibt. Die Frage "was ist es, das ihm / ihr solche Angst macht" bzw "was hat er / sie getan" ist das, worauf ein großer Teil der Spannung aufbaut.

Jeder einzelne von Ihnen hat Schlimmes erlebt. Es stehen viele Schicksale und Lebenswege nebeneinander, sie werden nicht gegeneinander gewertet, keiner hebt sich als besser oder schlechter aus der Masse hervor. Sie alle haben etwas erlebt, mit dem sie nun lernen müssen umzugehen, und da ist es ganz gleich, ob man für seine schreckliche Tat sogar ins Gefägnis musste, oder ob man "nur" nagende Zweifel in sich spürt. Das ist etwas, das ich an den Büchern dieser Autorin sehr mag: man spürt beim Lesen regelrecht, wie sie sich auf ihre Figuren einlässt, ihnen Leben einhaucht, sie liebt, auch wenn sie soviel erleiden mussten. Sie behandelt die Charaktere wie eine Mutter ihr Kind: egal, was es getan hat, es wird geliebt und ist gut, so wie es ist. Der Leser spürt diese Wärme, fühlt sich, wenn er sich mit dieser Figur identifiziert, angenommen und geborgen, soll ebenso wie die Helden dieses Buches lernen sich anzunehmen und selbst zu lieben.
   

AUFBAU

Der Klappentext verrät bereits sehr viel vom Inhalt des Buches, was erst recht spät klar wird. Denn der Aufbau von VAKUUM ist recht ungewöhnlich: die Autorin nimmt sich extrem viel Zeit, ihre Protagonisten einzuführen, widmet jedem zwei bis drei Kapitel. Erst nach ziemlich genau zwei Dritteln werden alle Fäden zusammengeführt. Dadurch ist es kaum möglich, eine Beschreibung vom Kern des Buches zu geben, ohne nicht schon einen großen Teil vorwegzunehmen.

Ich hatte mit einem langen RoadTrip gerechnet, auf dem sie viele Abenteuer erleben, doch das ist nicht der Fall. Statt dessen gibt es ein klares Ziel, eine gemeinsame Richtung, und bis auf einen kurzen Zwischenhalt ist dieses Ziel auch bald erreicht. Das Ende ... nun, das Ende wird einigen Lesern gefallen, die anderen eher enttäuschen. Es ist sehr gut inszeniert und klärt die offenen Fragen, lässt aber dennoch einen Interpretationsspielraum für das, was danach kommt. Wer jedoch Handfestes erwartet, dem wird etwas fehlen, der wird sich etwas abgespeist fühlen. Es geht alles recht schnell, der geübte Leser konnte das Ende bereits erahnen und lehnt sich nun zufrieden zurück. Der Gelegenheitsleser könnte sich fragen, ob das nun etwa alles war. Ja, das war alles.

Dennoch muss ich zugeben, dass der Aufbau das ist, warum ich dem Buch nur fast die volle Punktzahl gebe. Obwohl es von Beginn an sehr spannend ist und man schon nach der ersten Seite gar nicht anders kann als atemlos weiterzulesen, finde ich den Aufbau etwas eigenwillig. Das Verhältnis von Einleitung zu Hauptteil und Schluss fand ich unausgewogen. Zugegeben, mir fiele aber auch keine bessere Lösung ein, denn die Charaktere müssen vorgestellt werden, schließlich ist es genau das, worum es in diesem Buch geht. Man könnte vielleicht einen oder zwei Personen entfernen, das Buch dadurch straffen und den Hauptteil etwas strecken. Doch vielleicht ist die Figur, die für mich am wenigsten interessant war, gerade die Lieblingsrolle eines anderen Lesers?


NOCH ETWAS

Noch etwas, das ich gerne aufgreifen möchte: es ist unglaublich, wie gut die Autorin die Situation Koras im Gefängnis geschildert hat. Ich habe schon viele Bücher zu diesem Thema gelesen, ob nun Fachliteratur, Erfahrungsberichte oder seichte Unterhaltung. Jeder beschreibt auf seine Weise das Leben hinter Gittern, und dabei stechen natürlich die Erfahrungsberichte hervor. Doch was Antje Wagner in VAKUUM gelungen ist, finde ich herausragend. Während Erfahrungsberichte meist die Äußerlichkeiten beschreiben und selten so tief ins Innere gehen (da die Autoren sonst zu viel von sich preisgeben würden) und Romane das Innere nur selten realistisch beschreiben können, dringt dieses Buch bis ins Mark. Schildert das Leben in dieser Parallelwelt auf beeindruckende Weise, geht auf Kleinigkeiten ein, benennt Trigger und malt ein Bild, wie ich es in noch keinem anderen Buch gefunden habe. Ein ganz großes Plus für diese außerordentliche Leistung!


FAZIT

VAKUUM ist ein Buch, das die Probleme Jugendlicher aufgreift und geschickt mit den Ängsten, Sorgen und Befindlichkeiten zu spielen vermag. Die Handlung wird unmittelbar dargestellt, sodass man sich sehr schnell mit den verschiedenen Personen identifizieren kann. Einmal angefangen, konnte ich den Titel nicht mehr aus der Hand legen. Und so kann ich ihn uneingeschränkt allen Jugendlichen als ernsthafte und gleichzeitig spannende Lektüre empfehlen :-)

Wertung: 4,5 von 5 W-förmige Zacken

SaschaSalamander 17.09.2012, 09.10 | (0/0) Kommentare | PL

Solange die Nachtigall singt

INHALT

Die Handlung ist sehr komplex und schwer widerzugeben, wenn man nicht zuviel verraten möchte. Deswegen hier nur der Klappentext:

Ein Haus, abgeschieden von der Zivilisation.
Ein Wanderer, der sich verirrt.
Ein Wald mit zu vielen Gräbern.

Völlig unverhofft trifft der achtzehnjährige Jari auf die geheimnisvolle Jascha, deren Schönheit er sich nicht entziehen kann. Er folgt ihr in das abgeschiedene Haus mitten im Wald, wo sie lebt. Und das, obwohl er spürt, dass dieser Ort ein düsteres Geheimnis birgt. Etwas ist geschehen. Etwas, das schrecklicher ist als alles, was Jari sich je hatte ausmalen können. Etwas, das ihn in tödliche Gefahr bringt


GENRE

Inzwischen wissen die Fans der Autorin, dass sie sich auf kein Genre einstellen sollten. Antonia Michaelis ist eine Meisterin darin, die Grenzen der vorgegebenen Erzählmuster und Plotstrukturen aufzubrechen und eigenständige Werke zu erschaffen.

Hier gibt es viele Elemente, die aufgrund ihrer Vielzahl und vermeintlichen Widersprüchlichkeit eine Zuordnung unmöglich machen: ein märchenartiges Setting zu Beginn, ein zahmer Fuchs, das Thema Schönheit, auf den ersten oberflächlichen Blick wirkt dieses Buch wie ein verträumtes Märchen. Doch bald erkennt der Leser, dass hinter der verspielten Fassade der Tod lauert. Spannend wie ein Mystery-Thriller steigt die Spannung an, verursacht Gänsehaut, bietet Sex and Crime, Erotik und Gewalt bis hin zu einem Plot-Twist, der die meisten Leser sehr überraschen dürfte (Vielleser können möglicherweise damit rechnen, ich hatte es an einigen Stellen bereits geahnt, die Hinweise sind versteckt aber vorhanden). Die Hintergrundgeschichte um die entführten Drillinge birgt ein Drama, nach und nach erfährt der Leser, was hinter diesem Erzählstrang steckt und wie er mit der eigentlichen Geschichte zusammenhängt. Michaelis rüttelt an den Tabus ihrer Leser, manches Mal überschreitet sie die Grenze und schreibt sehr gewagte Szenen, welche den Leser verstören und aufrütteln.

Wer SOLANGE DIE NACHTIGALL SINGT liest, muss sich einstellen auf einen psychedlischen Trip voller Verwirrungen und Fallstricke. Am Ende wird zwar alles erklärt, doch nicht jedes Detail wird beantwortet. Wie auch schon in ihren anderen Büchern wird sie mit dem Ende die Leserschaft spalten: die einen finden es unbefriedigend und hätten sich mehr Antworten erhofft. Die anderen finden ihre eigene Interpretation, ihre eigenen Antworten. Ich war begeistert, für mich blieb nichts offen, und die von vielen Rezensenten angesprochenen Lücken kann ich für mich selbst sehr gut füllen und erklären.


CHARAKTERE

Konkret kann ich nur über Jari sprechen, alles andere wäre ein Spoiler. Es tauchen mehrere Personen auf, doch ihre Identität bzw ihre Existenz ist unklar. Traum, Illusion und Realität werden geschickt gemischt. Ich hatte versucht, einen klaren Überblick zu bekommen, indem ich während des Lesens einen Notizzettel hatte, auf dem ich mir die Namen, körperlichen Merkmale, Eigenheiten und Talente der jeweiligen Mädchen notierte. Das war sehr hilfreich, allerdings zweifelte ich immer wieder an meinen Notizen: waren das Logikfehler des Buches, oder hatte ich beim Notieren etwas verwechselt? Ich empfehle Euch, selbst Notizen anzufertigen, Euch von den Fehlern (?) aber nicht verwirren zu lassen, am Ende klärt es sich alles auf. Diese nicht greifbaren Charaktere machen einen großen Reiz in diesem Buch aus, es ist, als läge es dem Leser auf der Zunge, und doch kann er es nicht benennen.

Jari dagegen ist einfach zu beschreiben: er ist Mattis Freund, der Sohn seiner Mutter, Tischler-Lehrling seines Vaters. Über diese Eigenschaften definiert er sich zu Beginn, und seine Selbstfindung ist ein wichtiger Prozess. Denn im Wald gibt es keinen Matti, keine Mutter, keinen Lehrmeister, hier ist Jari nur er selbst. Doch wer oder was ist er? Und was möchte er werden, wenn er so lange im Wald bleibt? Im Trailer (den ich zum Glück erst nach der Lektüre ansah) wird leider bereits gespoilert, wer oder was Jari werden soll. Wer ohne Vorkenntnisse an das Buch herangeht, für den ist die drohende Ahnung gerade zu Beginn ein tragendes Element. Immer wieder gibt es kleine Momente, die darauf hinweisen. Als man es auf Seite 188 endgültig erfährt, wird die bisher nur empfundene Bedrohung plötzlich Realität, wird der verwunschene Märchenwald zu einer tödlichen Gefahr. Und Jari beschreitet diesen Weg offenen Auges, denn er ist nun ein anderer.


HANDLUNGSAUFBAU, ERZÄHLTEMPO

Das Buch besteht aus zwei Handlungssträngen: Jaris Erlebnisse im Wald bilden den Großteil der Erzählung. Dazwischen gibt es immer wieder Einschübe um die drei entführten Schwestern. Im Laufe der Geschichte werden diese beiden Stränge zusammengeführt, bis sie am Ende eine gemeinsame Handlung ergeben und als ein Faden weitergesponnen werden.

Das Erzähltempo ist eher beschaulich. Keine Actionszene, keine hektischen Momente. Langsam, fließend und gemütlich führt die Autorin den Leser in die geheimnisvolle Welt des Waldes ein. Genaugenommen gibt es anfangs keine klare Handlung, eher eine Aneinanderreihung von Szenen und Tagesabläufen. Mal stellen sie Apfelmost her, pflügen den kleinen Acker, musizieren sie, unterhalten sich, machen einen Spaziergang im Wald, hacken Holz und viele anderen alltäglichen Dinge mehr. Dennoch geht es im Buch stets vorwärts, sorgen kleine Andeutungen und Geheimnisse dafür, dass die Spannung konsequent steigt und niemals abbricht. Es gibt keine Längen, kein Wort, kein Absatz ist unnötig, alles bildet eine perfekte Einheit und vervollständigt das Gesamtbild am Ende.


SPRACHE

Antonia Michaelis ist eine Meisterin der zarten Andeutung. Es ist ihr möglich, schockierende Ereignisse in malerische Worte zu verpacken. Ein Tabubruch liest sich so zerbrechlich wie der Flügel der Nachtigallen, so weich wie der dunkle Samt der Kleider, so unschuldig wie der fallende Schnee. Dieser Widerspruch aus Worten und Inhalt ist der verstörende Kontrast, der das neueste Werk zu etwas Besonderem macht. Der Leser wird im Innersten gepackt, kann sich den schmeichelnden Worten nicht entziehen, nichtsahnend blickt er mit weit offenen Augen auf das Geschehen, und umso brutaler entfalten die dargebotenen Bilder ihre Wirkung.

Die Worte sitzen an den richtigen Stellen, sind perfekt gewählt, aus allen verfügbaren Synonymen das jeweils beste. Farben, Gerüche, Gefühle, sie alle haben eine Bedeutung und sorgen sowohl sprachlich als auch inhaltlich für eine dichte Atmosphäre.


ATMOSPHÄRE

Die Atmosphäre des Buches ist anfangs geheimnisvoll, mit Fortschreiten der Handlung wird sie immer bedrückender und beängstigender. Da die Autorin quasi "um die Handlung herum schreibt", nur andeutet statt beim Namen zu  nennen, ist die Bedrohung eher ein Gefühl als eine Gewissheit. Man spürt die Gefahr wie den berühmten Blick im Nacken, kann sie nicht zuordnen, bleibt in Lauerstellung, stets gespannt um vorbereitet zu sein. Wie bei einem guten Horrorfilm: je intensiver man die Handlung beobachtet, desto erschreckender ist ein unerwartet ins Bild springendes Objekt. Dies umzusetzen gelingt ihr mit Worten, wie es nur wenige Autoren vermögen.

SOLANGE DIE NACHTIGALL SINGT strahlt auch eine subtile Erotik aus, geeignet ab 16 Jahren aufgrund der Art der Darstellung, inhaltlich jedoch sehr erwachsen und erschreckend, ja sogar grenzwertig. Eine kleine Zungenspitze lugt zwischen den Lippen hervor, der Finger gleitet vielversprechend über einen Gegenstand, unschuldige Haut blitzt unter der Bluse hervor, Hände ertasten sich ihren Weg, die Silhouetten von Körpern bewegen sich wiegend im Dunkel. Ooh, der Leser hat Gänsehaut pur, teils aus Grusel, teils aus Lust, manchmal auch beides zugleich, und er kann sich nicht dagegen wehren, selbst wenn es ihm unmoralisch erscheint. Er ist eine Marionette, und die Autorin bewegt die Fäden, lässt uns hilflos zappeln und führt uns von einer Szene in die nächste.


FAZIT

Wieder hat Antonia Michaelis ein Meisterwerk erschaffen. Sie entführt uns in einen Wald, wo die Gesetze der Realität außer Kraft gesetzt werden und alles eine neue Bedeutung erhält. Düster, bedrohlich und doch feinsinnig, voller Zauber ist dieses Buch.

Wertung: 100 von 100 Fliegenpilze


SaschaSalamander 11.09.2012, 08.51 | (0/0) Kommentare | PL

Solange die Nachtigall singt

Das Buch liest sich langsam. Im positiven Sinne. Ich spüre es, lasse es wirken, mag nicht eilen sondern bewusst Seite für Seite, Wort für Wort genießen. Es steckt voller Symbole, Andeutungen und Hinweise, von denen ich keinen verpassen möchte. Es strahlt eine dunkle Erotik aus, unschuldig und zugleich erschreckend erwachsen. Es zieht den Leser in eine Finsternis, und doch ist es leichtfüßig, zart und zerbrechlich. Der Leser fühlt sich beobachtet, und doch ist er es, der beobachtet, der Eindringling, der Voyeur, der Fremde. Über allem ein Gefühl von Bedrohung und Gefahr, nicht greifbar. Wie ein Spaziergang im Wald, nachts, alleine. Still, die Nacht sanft und schwer, die Luft leicht und klar, das Licht des Mondes zaubert geheimnisvolle Schatten, diese nicht greifbare Freiheit und zugleich Angst, von der Autorin perfekt eingefangen, mit Worten gemalt.

Der Verlag hat das Buch angekündigt als "Meisterwerk der Märchenerzählerin". Mit solchen Vorschusslorbeeren bin ich immer Vorsichtig. Einige Blogs und Kritiker loben das Buch als "Highlight des Lesejahres 2012". Auch das finde ich im August etwas unfair gegenüber allen bisher noch nicht erschienenen Büchern. Ich bin kein Fan von Superlativen, auch vergleiche ich nicht gerne, wie kann man auch die Qualität von Antonia Michaelis mit der eines Thrillers, einer Romance, eines Unterhaltungsbuches vergleichen, wäre das nicht unfair allen Beteiligten gegenüber? Doch abgesehen davon - ja, dieses Buch begeistert mich, und ich bereue es nicht, dass ich sofort zum Erscheinungstermin sofort in die Stadt gefahren bin und alle anderen Bücher liegengelassen habe.

Das halbe Buch liegt noch vor mir. Ich wünschte, ich hätte es schon gelesen, die Spannung ist nur schwer erträglich, das unbestimmte Gefühl verdichtet sich, ist körperlich beim Lesen spürbar. Und ich wünschte, es würde nie aufhören - es ist die Art Geschichte, bei der man alle beneidet, die den Genuss noch vor sich haben.

Ausnahmsweise gefällt mir übrigens auch der Trailer. Obwohl ich sonst kein Fan von Buchtrailern bin. Doch wie schon im >MÄRCHENERZÄHLER< und >DIE WORTE DER WEISEN KÖNIGIN< beschreibt Michaelis keine fortlaufende Handlung sondern malt die ihre Worte poetisch um die Geschichte herum, das Geschehen ergibt sich aus den Bildern, eher eine Ahnung denn ausgesprochene Klarheit. Diese Bilder wurden in den Trailern der jeweiligen Bücher sehr gut eingefangen, sie vermitteln sehr gut die Atmosphäre, die beim Leser entsteht.

Ebenfalls ungewöhnlich: mir ist egal, wie ein Cover aussieht, in den meisten Fällen hat das sowieso nichts mit dem Buch zu tun. Ich will ein Buch nicht anfassen, brauche kein Relief, kein buntes Bild, von mir aus könnten alle Bücher gleich aussehen (wäre im Regal sogar wesentlich praktischer). Aber bei dieser Autorin gibt man sich ganz besondere Mühe, beide oben genannten Bücher und auch dieses hier sind wirklich prächtig. Die Farben gedeckt, geheimnisvoll, der Schutzumschlag fest und glänzend. Und das Buch ohne Schutzumschlag sieht fast ebenso aus, das Bild das gleiche nur ohne die Andeutung des Menschen, allein die Landschaft. Da ich Bücher stets ohne Schutzumschlag lese, freue ich mich über solche kleinen Bonbons.


Der Klappentext:

Ein Haus, abgeschieden von der Zivilisation.
Ein Wanderer, der sich verirrt.
Ein Wald mit zu vielen Gräbern.

Völlig unverhofft trifft der achtzehnjährige Jari auf die geheimnisvolle Jascha, deren Schönheit er sich nicht entziehen kann. Er folgt ihr in das abgeschiedene Haus mitten im Wald, wo sie lebt. Und das, obwohl er spürt, dass dieser Ort ein düsteres Geheimnis birgt. Etwas ist geschehen. Etwas, das schrecklicher ist als alles, was Jari sich je hatte ausmalen können. Etwas, das ihn in tödliche Gefahr bringt

>Das Lied der Nachtigall< auf der Seite des Verlages downloaden.

SaschaSalamander 01.09.2012, 21.03 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

Blind Date mit dem Leben

kahawatte_blinddate_1.jpgVOR DEM LESEN

Ich weiß nicht mehr, wodurch ich auf das Buch MEIN BLIND DATE MIT DEM LEBEN von Saliya Kahawatte aufmerksam wurde. Da er aber buddhistisch orientiert ist, vermute ich, dass ich irgendwo in einer meiner Zeitschriften oder in einem Buch darauf gestoßen bin. Jedenfalls bin ich froh, über dieses Buch gestolpert zu sein, es hat mich sehr bewegt und bereichert. Und noch vor dem Lesen habe ich mit Freunden bereits darüber diskutiert. Erzählte ihnen vom Buch, und wir kamen ins Gespräch "ja, warum hat er das keinem gesagt" oder auch "wie ist das denn möglich, so etwas geht gar nicht", und so ergaben sich schon vor der Lektüre viele Fragen, sodass ich umso gespannter wurde, wer dieser Mensch ist und was ihn antrieb.

Vorab zum Inhalt: Als Spoiler empfinde ich es hier nicht, was ich schreiben werde, denn auch auf seiner Homepage, in Fernsehberichten etc hat man schon einiges über ihn gehört bzw kann viel über ihn finden. Eine Biographie bzw einen Erfahrungsbericht kann man meiner Ansicht nicht spoilern. Wer anderer Ansicht ist, der sollte den Abschnitt "Lebenslauf" bitte überspringen und erst bei "Aufbau" weiterlesen. Wer mehr über den Autor wissen möchte: >Seine Homepage<, >sein Blog<, seine Firma >minusVisus< und ein Interview in >Zibb<.


LEBENSLAUF

Was er beschreibt, ist sein Leben. Und einige Male musste ich innehalten und es auf mich wirken lassen. Sähe ich einen fiktionalen Film, würde ich den Drehbuchautoren ersteinmal mäßigen: "das ist zu viel, das kauft Dir keiner ab, bleib mal auf dem Teppich und sei realistisch". Aufgewachsen als Kind eines singhalesischen Adels, um die gesamte Welt gereist, er speiste im Dschungel, er erlebte auf dem Gut seiner Familie arbeitende Kinder, bereiste ferne Länder, er hat bis zu seinem 15ten Lebensjahr mehr gesehen als mancher Mensch in seinem ganzen Leben. Dann der Beginn der Netzhautablösung, vom Vater fallengelassen, Trennung der Eltern und vom reichen Sohn plötzlich zum Jugendlichen ohne jegliche finanzielle Unterstützung auf Sozialhilfe, ohne Hoffnung, doch er strebt ein normales Leben an, boxt sich durch, verheimlicht seine Krankheit, belügt seine Freunde ebenso wie seinen Arbeitgeber und die Kollegen, macht eine Lehre, ja eröffnet sogar nebenher bald ein eigenes Restaurant. Und dann die Diagnose Krebs, Chemotherapie, er springt dem Tod von der Schippe. Doch die Lügen, die Mehrfachbelastung durch Arbeit, eigenes Restaurant, Krankheit fordern Tribut, und es folgen Drogen, Alkohol, Medikamentenmissbrauch. Und dann aufgrund der Chemotherapie ein Hüftleiden, OP, künstliches Hüftgelenk, reguläres Arbeiten ist nicht mehr möglich, es ist die Zeit gekommen, die Lügen zu beenden, doch vom Amt hagelt es nur niederschmetternde Aussagen: "nicht auf dem normalen Arbeitsmarkt", "behindert", "Einrichtung". Das will er nicht akzeptieren, bewirbt sich an einer Uni, scheitert, es folgt ein Suizidversuch. Später wendet er sich an die Presse, nimmt den Studiengang wieder auf, bis er dann eines Tages angesprochen und um Coaching gebeten wird, was nun sein neues Arbeitsfeld ist. Nein, für ein Drehbuch zu unrealistisch. Doch das Leben hält sich nicht an Drehbücher, und nur so sind Lebensläufe wie der von Saliya Kahawatte möglich.


AUFBAU

Das Buch liest sich in seinem Stil sehr flott und ebenso spannend wie ein Roman. Der Autor hat es strikt gegliedert in verschiedene Abschnitte seines Lebens. Dabei geht jedem Kapitel eine Betrachtung der Gegenwart voraus, in der er von seinem jetzigen Leben schreibt sowie seine heutige Sichtweise des damaligen Geschehens. Es folgen ein, zwei Abschnitte aus der Vergangenheit, klar nach Jahreszahlen und Lebensereignissen geordnet. Dann das nächste Kapitel. Ein strikter, klar geregelter Aufbau, so wie auch sein Leben und Tagesablauf heute geordnet und gut geplant ist. Die Worte für die Kapitelüberschriften sind klar, direkt, energisch. Er beschreibt im Laufe des Buches, warum er so klar reglementiert in seinem Leben vorgeht, ich finde es gut beschrieben und nachvollziehbar, es ist das was er braucht. Und, offen gesagt, mir ist das sympathisch, er hat seine Grundsätze nicht einfach aus dem Ärmel geschüttelt, sondern er hat sie sich erarbeitet und lebt nun danach, er weiß was er will und braucht. Noch vor dem Lesen fiel mir das sehr deutlich auf, und dieses Selbstbewusstsein zieht sich durch das gesamte Buch.


ERZÄHLWEISE

Was mich unglaublich fasziniert ist die bildreiche, lebendige Erzählung des Autors. Mag er auch selbst nicht mehr sehen können, so erzeugt er beim Gegenüber dafür umso klarere Bilder. Seine Schilderung beispielsweise vom Urlaub bei der "Dschungeloma", die Besuche bei seinem Freund Thuya, alles war so farbenreich wie ein 3D-Film. Die Rituale im Tempel, die Pilgerreisen, das Schlafen auf den Strohmatten, das Essen im Dschungel und die Besonderheiten des "Geschirrs" und "Abwaschs", ich meinte im Tempel die Räucherstäbchen zu riechen und vor mir spazierten greifbar die Elefanten bei der Hochzeit. Kahawatte hat ein sehr gutes Gespür für die Wirkung seiner Worte, sie wirken charismatisch und fesselnd. Auch die Beschreibung, wie er das erste Mal bei einem Coaching etwas versuchte greifbar zu machen und darzustellen, war sehr anschaulich. Selbst habe ich ihn nicht erlebt, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Menschen an seinen Lippen hängen, wenn er spricht.

In seiner Schilderung ist er stets klar und direkt. Er schmückt das Gesagte aus, verschwendet aber keine unnötigen Worte, verliert sich nicht in belanglosen Schilderungen. Er kommt sofort zum Punkt und reduziert seine Aussagen auf das Wesentliche. Am Text erkenne ich einen Menschen, der zielstrebig seinen Weg geht und sehr viel reflektiert. Er beschönigt auch nichts, steht klar zu dem, was er getan hat, beschreibt sich auf S. 69 sogar selbst als "armselige, heruntergekommene Gestalt". Er sucht keine Entschuldigung, heute ist er aufrecht und sich seiner selbst bewusst.


DER MENSCH HINTER DEM TEXT

Anfangs war ich erstaunt, wie es das möglich ist: ein solch reflektierter, durch und durch reifer Text. Und dann ein solch unreifes Verhalten. Warum all diese Lügen? Ich konnte verstehen, dass er nicht als behindert gelten wollte, dass er kein Mitleid wollte. Doch warum sich selbst so viele Dinge erschweren, wo es doch so viele hilfreiche Möglichkeiten gibt, die sehbehinderten Menschen den Alltag erleichtern? Warum sogar in einer Beziehung monatelang die Partnerin belügen? Das war für mich der Punkt, der einen Teil der Spannung ausmachte, denn ich fragte mich, ob und wann der Knackpunkt kommen würde, der diesen für mich nicht erklärbaren Widerspruch auflöste. Und hier möchte ich tatsächlich nicht spoilern, denn die "Auflösung" kommt. Wann und warum er lernte, die Dinge anders zu betrachten, wann er diese Hilfe (z.B. PC mit spezieller Software, Monitor zum Lesen von Texten) entdeckte und wann er begann, sich selbst zu reflektieren. Als es soweit war, hatte ich eine Gänsehaut, ich spürte, was das für ihn bedeutet haben mochte und welch großen Schritt er in dieser Phase seines Lebens gegangen war, welche inneren Hürden er überwunden hatte.

Trotz der vielen Schicksalsschläge in seinem jungen Alter spürt man auf jeder Seite die Lebensfreude und die unglaubliche Power, die er jetzt ausstrahlt. Sein Lebenslauf ist keinesfalls Maßstab für die Allgemeinheit, denn so viel Ehrgeiz, Durchhaltevermögen und Energie haben nur wenige Menschen. Viele seiner Erkenntnisse und jetzigen Weisheiten hat er sich erarbeitet, doch die Kraft, die ihn dazu brachte, es überhaupt erst durchzuziehen, die hatte er schon von Kind an, eine starke Persönlichkeit, wie er sich selbst schilderte. Doch auch, wenn nicht jeder seine Probleme wie er sosehr in Gutes wandeln kann - seine Biographie ist Inspiration, sie macht Mut und zeigt, dass ein Mensch auch am tiefsten Punkt seines Lebens aufstehen und das Beste aus sich herausholen kann.

Er hatte viele Helfer, zu Beginn seine Schwester und Mutter, die mit ihm lernten und ihm den Schulabschluss ermöglichten. Später enge Freunde und Weggefährten, mit deren Hilfe er die Ausbildung bestehen konnte, die ihn hier und da durch Prüfungen manövrierten und ihm hinter den Kulissen gelegentlich zur Hand gingen. Nur so gelang es ihm, eine normale Ausbildung im Gastronomiebereich zu absolvieren, ja sogar fast zum Leiter aufzusteigen, später ein eigenes Restaurant zu führen, in einem angesehenen Hotel zu arbeiten, einen riesigen Weinnkeller mit über 200 Sorten zu betreuen. Ihm wurde später bewusst, wieviel er diesen Menschen abverlangte, und seine Schlussworte mit dem Dank an seine engsten Freunde empfand ich als sehr bewegend, sie zeigten die tiefe Dankbarkeit hinter den Worten, es waren keine Phrasen, nicht die sonst üblichen Danksagungen am Ende eines Buches.


GESELLSCHAFTLICHE SITUATION

Sehr gut schildert er - nicht mit dem Holzhammer, eher nebenbei, wenn es sich in der Erzählstruktur ergibt - von der momentanen Situation sehbehinderter Menschen. Ein großes Problem sieht er in der Trennung von Behinderung und "normalem" Leben, von der Verortung des Problems in Einrichtungen. Gesunde Menschen, abgeschoben in eine eigene Welt, ohne die regulären Berufsmöglichkeiten, das ist etwas, das er nicht akzeptieren kann. Und ich muss ihm rechtgeben, denn es gäbe sehr viele barrierefreie Möglichkeiten im Alltag, die noch immer ungenutzt sind, einfach weil ... nun ja, ein sehr komplexes Thema, das hier den Rahmen sprengt. Ein Thema, mit dem ich mich beruflich wie auch privat schon häufig auseinandergesetzt habe und das noch sehr viel Handlungsbedarf in der Gesellschaft erfordert. Er bietet hier einige Denkanstöße. Geht stellenweise recht forsch vor, und was er verlangt ist teilweise etwas sehr hoch gegriffen, doch um das Mögliche zu erreichen, muss man das Unmögliche einfordern, und vielleicht wird eines Tages sogar das Unmögliche möglich, denn nur so ist eine vollständige Integration ohne Grenzen erreicht. Kahawatte hat sich noch einige Ziele gesteckt, und ich wünsche ihm von Herzen alles Gute für das, was er sowohl persönlich als auch gesellschaftlich noch alles vorhat :-)


FAZIT

Inspirierend und bereichernd. Ein Buch, dem ich unzählige Leser und einen großen Erfolg wünsche.

Wertung: Biographien, Lebensläufe und Erfahrungen erhalten von mir keine Wertung, das wäre vermessen ;-)

SaschaSalamander 31.08.2012, 15.05 | (0/0) Kommentare | PL

Das Geheimnis von Ashton Place 01

wood_ahston01.jpgPenelope Lumley ist 15, als sie ihre Ausbildung zur Gouvernante in einer Einrichtung für begabte Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen abschließt. Und sie hat Glück, denn sie findet sofort eine Anstellung bei Lord Ashton, soll seine drei Kinder betreuen. Doch schnell stellt sich heraus, dass es drei Kinder sind, die er auf seinem Grundstück bei der Jagd gefunden hatte, scheinbar großgezogen von Wölfen. Sie jaulen, bellen, jagen Eichhörnchen und verhalten sich auch sonst wie junge Hunde. Doch Penelope, kurz Penny, freundet sich sofort mit den Kleinen an und lässt ihnen die bestmögliche Erziehung angedeihen. Beim nächsten Weihnachtsball sollen sie der Dame des Hauses beweisen, wie gut sie sich entwickelt haben. Aber es scheint, jemand will dieses Vorhaben sabotieren ...

Ein wundervolles Buch! Das Cover mit seinen warmen Farben und den quirligen Kindern sprach mich sofort an, und es trifft den Grundton des Buches auch sehr gut: wuselige Kinder, eine freundlich lächelnde Gouvernante als ruhender Pol zwischen ihnen, die Farben bzw die Atmosphäre weich und warm. Ein Buch, das sofort mein Herz berührte, weil ich die Hauptcharaktere vom ersten Moment an mochte und mich sehr gut in die Geschichte hineinversetzen konnte.

Natürlich gibt es auch Unsympathen, doch manche sind nicht böse, und bei anderen ist es unklar, was sie im Schilde führen. Das ist das, was ich schade finde: es ist der Beginn einer Reihe, und das Buch ist nicht abgeschlossen, es häufen sich mehr Fragen auf als beantwortet zu werden. Doch während ich dies bei anderen Büchern ärgerlich finde, konnte ich mich hier wider Willen Pennys Charme nicht entziehen und werde mir wohl flink Band 2 und 3 auf Englisch kaufen (auf Deutsch sind sie noch nicht erhältlich), hoffend auf weitere Geheimnisse und Begegnungen mit den Kindern.

Manches Mal hat es mir regelrecht einen Stich versetzt, wenn die adligen Herrschaften so böse über Penny (niederes Dienstpersonal) oder die Kinder (bezeichnet als "die Unerziehbaren") sprachen, bevorzugt in der dritten Person, während sie neben ihnen standen. Das grausame Verhalten der Reichen wird sehr überzeichnet, sodass auch dem kindlichen Leser schnell klar ist, dass die "Wilden" und "Unzivilisierten" in Wirklichkeit nicht die Kinder sind. Denn die Kinder sind wissbegierig, bemühen sich Penny zu gefallen, sie sind aufmerksam und höflich, wenn auch manchmal etwas ... eigen. Aber dagegen gibt es Tricks, z.b. das "Eichhörnchen - Desensibilisierungs - Programm". Und Penny aus ihren ärmlichen Verhältnissen ist ein Goldstück, sie bleibt ruhig, hat immer einen weisen Spruch ihrer Lehrerin auf den Lippen. Passend für die damalige Zeit: sie ist 15, hat ihre Ausbildung abgeschlossen, ist bereits recht erwachsen und mitten im Leben. Trotzdem ist sie in vielen Dingen noch ein kleines Mädchen, liebt ihre Ponybücher und denkt manchmal noch etwas kindlich und naiv.

Die Reihe wird gelegentlich mit Lemony Snicket verglichen. Zugegeben, als ich das Hörbuch hörte, wunderte ich mich über diese Aussage, ich fand wenig Parallelen (abgesehen von dem jüngsten Kind, das mich mit seiner pfiffigen Art und ihrer Sprechweise ein wenig an die kleine Sunny erinnerte). Als ich allerdings über den "Blick ins Buch" bei Amazon ein paar Seiten des Buches las, musste ich schmunzeln. Ja, mit 3 CDs hat man das Buch wirklich sehr gekürzt, schon auf den ersten Seiten entdeckte ich viele kleinen Einschübe, die man weggelassen hat. Sie tragen nicht zur Handlung bei, sind von daher nicht relevant. Doch wie bei Lemony Snicket sorgen sie für einen gewissen spitzen Humor, die Erzählerin schweift ab, verleiht ihrer Geschichte kleine Akzente. Weniger bissig allerdings, ASHTON PLACE ist in seinem Grundton wärmer und weicher, weiblicher, wo Snicket dagegen bewusst das Düstere und Tragische seiner Erzählung betont. Man kann es nur bedingt vergleichen, finde ich.

Doch der Humor ist, wenn auch etwas stiller, ein ähnlicher. Er ergibt sich vor allem aus der Gegenüberstellung der beiden Parteien und den daraus resultierenden Konflikten. Das Aufeinandertreffen dieser zwei Welten sorgt häufig für ein Schmunzeln, manchmal auch für Traurigkeit, etwa wenn die Kinder plötzlich im Arbeitszimmer des Lords die Trophäensammlung an der Wand betrachten und darunter einen Wolf entdecken. Besonders witzig ist es, auf welche Weise die Kinder ihre Kreativität zum Ausdruck bringen und wie dies von ihrer Umwelt wahrgenommen wird.

Allerdings gibt es wenig Action, der Erzählstil ist ein eher gleichmäßig fließender. Ich würde das Buch eher jungen Bücherwürmern empfehlen, die etwas geübter sind und gerne lesen. Für Lesemuffel oder Gelegenheitsleser dürfte gerade zu Beginn etwas der Anreiz fehlen, die konkrete Handlung und die daraus resultierenden Konflikte finden sich erst im letzten Drittel.

Sprecherin des ersten Bandes ist Katja Danowski. Sie ist deutsche Theaterschauspielerin und hat bereits in einigen Filmen mitgewirkt. Ihre Stimme und Sprachmelodie passt sehr gut zu Penny und klingt angenehm weich im Ohr.

Alles in allem hat mir DAS GEHEIMNIS VON ASHTON PLACE sehr gut gefallen. Die Charaktere, die Atmosphäre, die Herzlichkeit, aber auch der leise Humor gefielen mir sehr. Die Folgebände hole ich mir auf jeden Fall, aufgrund der Kürzungen aber unbedingt in Printform. Ein Kinderbuch, das ich begeisterten Leseratten gerne empfehle.

Wertung: 8,5 von 10 Tableaus

SaschaSalamander 28.08.2012, 08.51 | (0/0) Kommentare | PL

Mitternachtsraben

>Hier< habe ich von meinem ersten Hörerlebnis geschrieben. Die CD hatte mir eine Freundin in die Hand gedrückt "da, könnte Dir gefallen", ich habe sie auf dem Weg zur Arbeit gehört und abends nochmal mit meinem Mann gemeinsam auf dem Sofa, und tags darauf stand ich sofort im Laden und bestellte sie mir, seitdem kann ich gar nicht mehr zählen, wie oft ich sie bereits gehört habe. Sie begleitet mich im Alltag in den unterschiedlichsten Situationen, und leider kann ich die Texte noch immer nicht auswendig, aber bald dürfte es so weit sein. Mal höre ich nur einen bestimmten Track, ein andermal das gesamte Album.

Anlässe, bei denen ich die CD höre, gibt es viele. Z.B. wenn ich mit Kerzen in der Badewanne liege und komplett entspannen möchte. Oder wenn ich von der Arbeit komme, aufgeputscht und noch voller Hektik, etwas Ruhiges brauche zum Abkühlen. Wenn es mir gerade schlecht geht und ich etwas brauche, das mich wieder hochzieht. Wenn ich den Umweltlärm vor dem Fenster überdecken möchte, um nachmittags ein Schläfchen zu halten, sind die sanfte Stimme und die geheimnisvolle, ruhige Begleitmusik ideal. Wenn ich einfach mal ein paar Minuten Kultur brauche, die mich vom Alltag ablenkt und dabei dennoch anspruchsvoll ist. Wenn ich es mir mit einem Gläschen auf dem Sofa gemütlich mache und die CD gerade dazu passen würde. Oder weil ich beim Scrollen durch meine Playlist auf dem Ipod über das Album gestolpert bin. Oder weil ich dachte "jetzt hätte ich mal wieder Lust auf Numensang und Schattenbastard". Es gibt unzählige Gründe, und eigentlich brauche ich gar keinen Grund. Ich liebe diese CD und habe sie weit öfter gehört als alles andere, was ich auf dem Player an Texten habe.

Fast ein halbes Jahr ist das nun her, mindestens einmal die Woche habe ich mindestens eines der Gedichte gehört, und jedes Mal habe ich mir vorgenommen "JETZT schreibe ich ENDLICH eine Rezension". Trotzdem habe ich bis jetzt gewartet. Der Grund ist, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Und dass ich auch nicht so recht weiß, wie ich meine Gefühle und Gedanken in Worte fassen soll. Eine beobachtende Beschreibung, wie ich sie normalerweise verfasse, ist mir hier nicht möglich, zu tief berühren mich die Gedichte und die Musik. Und eine allzu persönliche Beschreibung, was sage ich damit über mich aus, will ich das, und wer will das überhaupt lesen?

Bevor ich mich weitere zahllose Monate mit einem schlechten Gewissen plage, weil diese CD auf jeden Fall eine Rezension verdient hat und ich mich weiterhin davor drücke, möchte ich sie also wenigstens vorstellen, meine Gedanken mit Euch teilen. Eine sachliche Rezension ist es nicht. Aber muss es ja auch nicht sein, oder? Also, hier ein paar meiner Gedanken, unsortiert, kunterbunt und äußerst unobjektiv, aber sosehr von Herzen, wie es ein Beitrag hier nur sein kann

Frank Zappa sagte einmal "Über Musik zu schreiben ist wie über Architektur zu tanzen". Gut, nun sind es Worte, über die es hier zu schreiben gilt, aber diese Worte empfinde ich als sehr viel mehr. Für mich sind diese Worte Melodie, ein Lebensgefühl, sie vermitteln Emotionen, sie gehen über reine Unterhaltung hinaus. Dazu die Musik, die so perfekt passt, so viel transportiert, auch sie zu beschreiben wäre ... naja, wie eben über Architektur zu tanzen. Es geht nicht, ich schaffe es nicht.

Die Gedichte in ihrer düster-romantischen Art erinnern in ihrer Schwermut, ihrer Aussage, ihren Themen und vor allem ihrem Stil an Poe. Eine Aussage, die ich keinesfalls leichtfertig treffe, da Poe für mich einer der absolten Größen und mein Favorit ist. Schon oft las und hörte ich Gedichte oder Geschichten, denen man dies nachsagte, und immer wurde ich enttäuscht. Nur, weil etwas düster ist oder melancholisch, gothic oder was auch immer, ist es noch lange nicht "wie Poe". (Aber auch hier: das zu analysieren wäre hier zu aufwändig)

Der Hörer (und Leser, denn die kompletten Gedichte sind auf einem Büchlein im Booklet enthalten) begegnet fantastischen Wesen, etwa dem personifizierten Tod, einer Nymphe, einem steinernen Engel, einem Schattenwesen, einer Fee, mehreren Raben, dem ewigen Juden Ahasver. Manche dieser Wesen sind real, andere Metaphern, und wieder andere Trugwesen, wer vermag zu sagen, was echt und was Traum?

Themen sind Eros und Thanatos, die Sehnsucht nach Liebe und Tod. Und dazwischen die Gier nach Leben, nach Fülle, nach Erfüllung, Leidenschaft und Lust. Das Geheimnis der Metarmorphose, häufig verbunden mit dem Übergang vom Leben in den Tod oder eine andere Wesensform, Tod als Wandlung und Transformation. Man könnte es als kitschig-romantisch bezeichnen, doch in meinen Augen hebt sich der Autor mit dieser CD deutlich von ebendiesem Klischee ab. Die Gedichte sind so verfasst, dass sie sich von typischen Todessehnsuchtsgedichten a la "ich-bin-Goth/Emo-und-deswegen-ach-so-literarisch" abheben (unnötig zu erwähnen, ich möchte jedoch nicht, dass bei dem, was ich hier schreibe dieser Eindruck entsteht. Denn diese Art Gedichte mag ich nicht). Im Grunde hätte jedes dieser Gedichte eine eigene Analyse verdient, den Aufbau und die Sprache hier explizit auszuführen würde eine einfache Rezension um Weiten sprengen, ein objektiver Rezensent könnte das in einer kurzen Zusammenfassung und jeder Menge hochliterarischem Geschwurbel vielleicht schaffen, aber mir ist es nicht möglich.

Außerdem: Ich will die Gedichte gar nicht analysieren, möchte sie nur wirken lassen, ihren Zauber spüren, möchte ausgelassen mit "Nymph und Sylph und Salamander" im trunkenen Bachhanal tanzen. Allein der Wohlklang dieser drei Worte, der Sylph eine lautmalerische Brücke zwischen Nymph und Salamander, mit m und ph des ersten und den Buchstaben S und l an erster bzw dritter Stelle). Ich habe es mir bereits ungezählte Male auf der Zunge zergehen lassen, die Worte geschmeckt, mich daran gelabt. Wie soll ich eine komplette CD rezensieren, wenn ich doch schon bei jedem einzelnen Satz ins Schwärmen gerate?

So viele einzelne Sätze, die ich herauspicken könnte. Nur einen: "Schatten sind seltsame Delikatessen, und seltsam ist auch die Moral der Geschicht: will einer dich zwingen, Schatten zu fressen, so schlage ihn tot und trete ins Licht". Aus dem Zusammenhang gerissen klingt dies seltsam, im Kontext der gesamten Geschichte ist es einleuchtend, und die Verbindung zwischen Leben, Tod und Wandlung, der Übergang vom Schatten ins Licht, ist hier in diesem abschließenden Satz gelungen zusammengefasst. Und dieser Satz ist ein gutes Beispiel für die ungewöhnliche Erzählweise des Autor. Doch bevor ich ausschweife: lest diesen Satz laut, lauscht seinem Klang, spürt ihn auf der Zunge, spürt ihn in Euch, versucht nicht ihn zu ergreifen, sondern laucht nur nach innen ...

Christian von Aster liest seine Texte selbst ein. Er nimmt sich sehr zurück, überlässt die Wirkung komplett dem Text. Still und ruhig umschmeichelt er mit sanfter Stimme das Ohr des Hörers, es ist entspannend und beruhigend ihm zu lauschen. Dazu die Musik, die den klangvollen Worten das rechte Gewicht verleiht, ohne sie mit Schwere zu belasten, immer etwas leiser als die Sprache aber stets präsent, eine perfekte Einheit aus Wort und Melodie. Beides zusammen, die Stimme und die Musik, empfinde ich als perfekt zum Träumen: es entschleunigt, beruhigt, regt zum Träumen an und sorgt mit einer gewissen Wehmut dennoch für die erforderliche Erdung, um nicht vollständig abzudriften. Was mir sehr gut gefällt und wofür ich diese CD besonders liebe: gerne würde ich Musik oder Text hören zum Einschlafen oder Entspannen, doch auf allen CDs ändert sich Tempo, Lautstärke, die mich dann aus meiner Stille herausreißen. Hier dagegen ist alles so abgemischt, dass man durchgehend hören kann, dass man auch gerne einmal abdriften, einnicken, vollständig abschalten kann. Und trotzdem ist es niemals monoton, dennoch folgt alles einer gleichmäßigen, wohltönenden Melodie, auch die Stimme wirkt wie ein Teil der Musik.

So, das war es, was mir auf dem Herzen lag. Im Groben. Denn eigentlich wäre es noch zehnmal soviel. Und jedes Mal, wenn ich einen Track oder die CD höre, finde ich weitere Gründe, warum ich so begeistert bin, erschließen sich mir weitere Interpretationen, höre ich wieder eine Besonderheit, die mir bisher entgangen war. Aber ich denke, das hier sollte vorerst genügen ;-)

Wertung: Außer Konkurrenz!


SaschaSalamander 27.08.2012, 08.17 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

Fessle mich - Ratgeber für Fans von Shades of Grey

hoffmann_fesslemich_1.jpg>SHADES OF GREY< ist ein Phänomen, dem man sich als Leser kaum entziehen kann. Zumindest nicht, wenn man sich mit Freunden über Bücher austauscht, Zeitschriften liest und in Buchhandlungen stöbert. Meine Meinung zu diesem Buch will ich in dieser Rezension gar nicht näher ausführen, habe >hier< ja schon einiges angedeutet. Ich denke, bei den schriftstellerischen Fähigkeiten der Autorin darf man vermutlich mit einem One-Hit-Wonder rechnen, ich kann mich also getrost dem nächsten Buch widmen. Zum Beispiel FESSLE MICH von Arne Hoffmann. Von Arne habe ich kürzlich erst >HÖRIG UND AUSGELIEFERT< gelesen, vor etwa drei Jahren las ich den Ratgeber LUSTVOLLE UNTERWERFUNG, das sich dem Thema ebenfalls sehr aufgeschlossen und anfängergerecht widmet sowie einige weitere kürzeren Beiträge.

Im Vorwort bezieht sich Hoffmann auf die Aussagen verschiedener Autoren, Psychologen und geht kurz auf die Geschichte der Wahrnehmung des Sadomasochismus in Deutschland ein. Danach folgen 18 Kapitel, beginnend bei der Ergründung eigener Vorlieben und Phantasien hin zu verschiedenen Spieltechniken, Spielzeugen und wichtigen Vorbereitungen. Dann zum Ende hin verschiedene Dinge, die ihm noch wichtig sind zu erwähnen und die vor allem in SHADES OF GREY sträflich missachtet werden.

Wer SHADES OF GREY mag, der darf sich freuen, dass dieses Buch nicht abgewertet oder zerrissen wird. Hoffmann legt den Finger genau auf die wunden Punkte, geht dann aber konstruktiv und mit weiterführenden Tipps darauf ein. Wer die SHADES nicht mag, der darf gerne Gefallen daran finden, wie hier viele Szenen zerlegt werden und der Autor darauf hinweist, wie gefährlich die Umsetzung solcher Praktiken und Verhaltensweisen in der Realität wäre. Wer sich gar nicht für die SHADES interessiert, hm, der hat immerhin einen Ratgeber, zu dessen Verständnis das Buch von E.L. James nicht erforderlich ist, die kleinen Passagen können lediglich als Fallbeispiele gewertet werden.

Ein paar Beispiele, was Hoffmann an dem Buch bemängelt: Anastasia darf mit niemandem über ihre Beziehung reden, doch gerade auf diesem Spielfeld ist es unglaublich wichtig, dass Anfänger sich über ihre Erfahrungen austauschen. Außerdem überfällt Grey sie mit einem riesigen Katalog an Forderungen, bei denen sie nur begrenzt Mitspracherecht hat und bei Widerspruch mit der Definition des Begriffes "submissiv" mundtot gemacht werden soll. Auch lässt sich die junge Frau auf ein Treffen ein, bei dem ihre Freunde zwar um ihren Aufenthalt und ihre Sorgen wissen, doch Absprachen für den Notfall wurden nicht getroffen. Grey ist ein Stalker, handelt häufig widerrechtlich und geht nicht auf den Widerstand seiner Freundin ein. Dies nur ein paar Beispiele, der Autor geht wesentlich intensiver ins Detail und beschreibt auch Dinge, die dem Leser im ersten Moment wohl gar nicht auffallen aber doch von großer Bedeutung für eine funktionierende Beziehung oder gar eine SM-Beziehung sind.

Arne Hoffmann beherrscht die Kunst, seinen Schreibstil der Botschaft des Buches anzupassen. So habe ich von ihm schon komplexe Texte gelesen, die man nur mit voller Aufmerksamkeit lesen kann, auch humorvolle Passagen, ebenso wie locker-flockige Unterhaltung oder eben wie hier Ratgeber, bei denen der Leser nicht vom Schreibstil abgelenkt werden soll, sondern sich einzig um den Inhalt kümmert. Für FESSLE MICH schreibt er betont leger, das Buch ist fast schon wie nebenbei zu lesen, es ist sehr leichtgängig und durch den eingestreuten Humor auch sehr unterhaltsam. Infotainment, wie man es auf Neudeutsch nennt, und das ist ihm durchweg gelungen. An einigen wenigen Stellen war er mir etwas zu flapsig, aber das kann man getrost ignorieren, da es sich (abgesehen vom Vorwort und dem ersten Kapitel) nicht häuft sondern gut verteilt ist. Dadurch nimmt er dem Thema jedoch auch eine gewisse Schärfe und macht dem neugierigen Leser klar, dass SM keine bierernste Angelegenheit ist sondern vor allem eines soll: Spaß machen und Lust bereiten. So wie dieses Buch.

Außerdem zeigt er klar, dass die Grenzen fließend sind. Was ist noch "normal", und wo beginnt "SM"? Und ist nicht vieles, was man als aufgeschlossener Mensch schon viele Jahre zu Hause gemacht hat, nicht sogar ein Teil davon, ohne dass man es ahnte?

Gelegentlich wünscht man sich wohl, dass er genauer auf verschiedene Themen einginge, hat das Gefühl "hier fehlt etwas" oder "da hätte er sich kürzer fassen können". Nun, ich denke, das liegt ganz klar daran, dass jeder eben eigene Interessen hat, und was für den einen zuviel Input ist, ist für den anderen noch viel zu wenig. Im Grunde könnte man über jedes der angeschnittenen Themen ein ganzes Buch füllen, bzw gibt es zu den einzelnen Themen ja bereits umfassende Ratgeber. Doch um zu wissen, welche Fachbücher man lesen muss, sollte man erst einmal die eigenen Vorlieben und Neigungen erkunden, und dabei hilft FESSLE MICH. In einer ausführlichen Literaturliste auf Deutsch und Englisch findet der Leser sehr viele weiteren Nachschlagewerke, wo er sich dann gerne detaillierter über die bevorzugten Phantasien und deren Umsetzung informieren kann. Auch Romane rund um dieses lustvolle Thema werden vorgeschlagen, sowohl Klassiker wie auch moderne Unterhaltung, softe Titel und härtere Kost.

Alles in allem ein Buch, das man Anfängern wirklich empfehlen kann, weil es einen guten Überblick über die vielen Facetten des BDSM bietet (es sind weit mehr als nur 50) und dabei so richtig Lust macht, es selbst einmal auszuprobieren. Also, keine falsche Scham, einfach lesen und dann ... wer weiß ;-)

Wertung: 9 von 10 männliche Sklaven

(von denen gibt es in der modernen Literatur nämlich zu wenig, deswegen packe ich mir einen in die Wertung)

SaschaSalamander 24.08.2012, 09.02 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

Mein Gott, Wanda

herwig_wanda_1.jpgINHALT

Wanda hat ihren Teeladen verkauft und will nun von ihrem Ersparten den wohlverdienten Ruhestand genießen. Doch so ganz will das nicht gelingen. Immer wieder besucht sie ihren alten Laden, schließlich könnte der neue Inhaber ja ihre Hilfe brauchen. Ihr wird bald langweilig, und statt die Freizeit zu genießen fühlt sie sich leer und orientierungslos. Als ein Bekannter sie zu einer Australienreise einlädt, ist sie begeistert. Doch kurz vor der Abreise hat ihr Sohn einen Unfall und liegt mit Trümmerbruch im Krankenhaus. Mit Trümmerbruch kann man natürlich kein Fitness-Studio leiten, also soll Wanda einspringen. Schweren Herzens bringt sie das große Opfer, sagt die Reise ab und geht ins Studio. Dort sieht es schlimmer aus als erwartet: die Kunden zahlen nicht, die Geräte sind völlig veraltet, die Räumlichkeiten hässlich und ungepflegt. Kein Wunder, dass ihr Sohn kurz vor der Pleite steht. So wirklich Lust hat Wanda ja nicht, aber ziemlich schnell wird das Projekt zum Selbstläufer, bis sie und ihre Freundinnen dann voller Elan alles geben, aus der abgeranzten Muckibude ein attraktives Studio für Jung und Alt zu machen. Und dann ist da noch der Wettbewerb um das attraktivste Fitness-Studio, bei dem der Gewinner 20 000 Euro erhalten soll. Wie sollen Wanda und ihre Freunde das in dieser kurzen Zeit schaffen?


CHARAKTERE

Die Charaktere sind, wie auch alles andere im Buch, sehr klar und geradlinig definiert. Es ist einfach und nachvollziehbar geschrieben, wie Wanda anfangs widerwillig arbeitet, sich vom "klebrigen Band der Mutterliebe" gefangen fühlt und dann immer begeisterter in ihrer Aufgabe aufgeht. Auch ihre Freundinnen haben klare Rollen, die eine Lebefrau auf Männerjagd, die andere ein Putzteufel mit Backwahn und Ehemann. Hier und da erlebt man, wie einzelne Nebenfiguren ihre anfängliche Maske fallenlassen und aus einem freundlichen Menschen ein arroganter Kerl wird oder ein Macho, Rambo und Kinderschreck seine freundliche Seite zeigt. Es steckt eben mehr in den Menschen, als man auf den ersten Moment ahnt. Wirklich überraschend sind diese Wandel nicht, der Schreibstil und der Inhalt des Buches machen klar, dass hier alles ein Happy End finden wird und Konflikte sich wie von selbst in Luft auflösen. Die Charaktere könnten meine Nachbarn und Verwandten sein. Mir sind sie alle schnell ans Herz gewachsen. Auch die vielen Randfiguren konnte ich mir sehr gut einprägen, weil sie in wenigen Worten klar beschrieben wurden in ihren Eigenheiten.


SPRACHE

Die Sprache in diesem Roman ist sehr schlicht gehalten, lässt sich perfekt lesen, während man gerade entspannt am Strand liegt, seinen Urlaub auf dem Sofa genießt oder - in solchen Momenten liebe ich diese Art Bücher besonders - am Wellnesstag zwischen Sauna, Sprudelbad und Gesichtsmaske ein bisschen Unterhaltung möchte. Manchmal, wenn der Alltag besonders stressig ist, braucht man einfach eine kleine Verschnaufpause und ein Buch, in dem alles glattläuft.


AUFBAU

Der Aufbau ist wie alles an diesem Buch geradlinig und schlicht, wartet mit keinen großen Überraschungen auf. Zuviel Action und Aufregung würde nur stören. Eine Art "Showdown" gibt es natürlich, als die Juroren des Wettbewerbes unangekündigt vor der Tür stehen und genau zuvor das größtmögliche Chaos eintrat. Natürlich steht auch immer die bange Frage im Raum, was der Sohn dazu sagen wird, wenn aus der Muckibude für harte Jungs plötzlich ein freundlicher Treffpunkt mit Tee, Kuchen und ein bisschen Fitness wurde? Hier und da gibt es kleine Konflikte, z.B. wenn ein Kunde penetrant unhöflich ist, wenn der Dackel des Nachbarn immer wieder im Garten sein Geschäft verrichtet. Aber alle Probleme lassen sich lösen, irgendeiner der jungen Kunden besitzt ein besonderes Talent, oder einer der Senioren hatte da früher den passenden Beruf. Vorhersehbar, und das im positiven Sinne: ich hatte sehr oft ein ganz breites Grinsen oder Strahlen im Gesicht, wenn sich wieder einmal alles zur Zufriedenheit aufklärte.


HUMOR

Ein stiller Humor, kein brüllendes Lachen, keine Schadenfreude, aber jede Menge Herz, Menschlichkeit und Charme. Es gelingt der Autorin geschickt, die Situationen so einzufangen, dass die absurden Momente herausgepickt werden und ein normaler Alltag plötzlich voller Witz steckt. Kleine Dialoge, treffende aber ungewöhnliche Metaphern, Menschen. Voller Herz und Wärme.

Sehr viel Humor findet sich im Fitness-Wahn, der aufs Korn genommen wird. Wie sollen Wanda und ihre Freundinnen im Laden bitte den Unterschied erkennen zwischen einer Sweathose, Funktionshose, Hose mit Climalite-Technologie, City-Sweatpants und einer stinknormalen Trainingshose? Und was könnte Wanda den Leuten in ihrem Studio bieten, wo das konkurrierende Planet Fitness mit Power, Action, Group-Groove, Water Warrios, Fusion-Yoga, Pilato-Burn, Power-Sculpt, Cardio-Lift und Triple Powerdingens aufwartet?


ROMANTIK

Romantik im klassischen Sinne kommt hier nicht vor. Aber es fließen natürlich Beziehungen, Liebschaften, Verliebtsein, Trennungen mit ein. Wanda, ihre Freundin, ihre Tochter, alle drei werden mehrfach vor die Frage gestellt, was sie wollen und was in ihrem Leben wichtig ist. Und was als so erstrebens- und liebenswert erschien, muss nicht immer das sein, was das Herz tatsächlich verlangt. Natürlich sind am Ende alle glücklich, doch bis dahin gibt es einiges zu erleben. Kein Herzschmerz, kein Schnulz, keine Schmetterlinge, aber ein Lächeln auf dem Gesicht.


GENERATIONSÜBERGREIFEND

Es ist köstlich zu lesen, wie Wanda und ihre Freundinnen den Club aufmöbeln und sich Jung und Alt dabei immer näher kommen. "Sixty is the new sexy", und getreu diesem Motto legen sich die Herrschaften so richtig ins Zeug. Die jungen Clubbesucher sind erstaunt, was Hajo, Marianne, Biggi und die anderen so alles zu bieten haben an Fachwissen und Ideen. Und niemand kann so überzeugend Leute "überreden" wie der junge, tätowierte Biker Axel und seine Kumpel. Nachdem die "Jungspunde" langsam auftauen und aus sich herausgehen, packen auch sie ordentlich zu, sie können malern und schleppen und Trainingskurse geben, dass es eine wahre Freude für den Leser ist. Es macht Spaß, wenn die Rentner zu ACDC und Bon Jovi ihre Streching-Übungen machen und dafür der junge "Rambo" dafür Rechtsbeistand vom "alten Hasen" bekommt. Matti kann super streichen, und dafür kann Marianne Hosen flicken.

Natürlich müssen sie alle erst einmal ihre ersten Berührungsängste überwinden, und es kommt immer wieder zu kleinen Problemen. Wie hätte Wanda auch ahnen sollen, dass sie nicht gleichzeitig den Punchbag und den Sandsack vermieten kann und nun zwei Männer darum streiten, wer das Ding benutzen darf? Facebook, Twitter und Co sind schrecklich, aber zum Glück gibt es den hilfreichen Nachbarn, und vielleicht könnte man ja doch ... Und es ist wirklich eine Schande, dass Wandas alter Kräuterteeladen plötzlich zu einer orientalischen neumodischen Teestube werden soll, in der sogar solche seltsamen Sachen wie "Matscha" verkauft werden. Obwohl - vielleicht, mal ein Tässchen probieren, ...

So sollte es sein, so gehört es sich. Schade, dass es in der Realität oft schwerer ist und es nicht so gut endet. Aber man darf doch davon träumen, dass es so sein könnte. Schließlich wäre es alles ganz einfach, Wanda zeigt es uns.


FAZIT

Das Buch liest sich schnell und unterhaltsam, zaubert ein Lächeln ins Gesicht und tut einfach gut, wenn man den Alltag einfach einmal hinter sich lassen möchte. Wanda und ihre Freunde schließt man sofort ins Herz. Ich wünschte mir, dieses ungewöhnliche Sportstudio wäre bei mir um die Ecke, damit könnte man wohl sogar mich Sportmuffel überzeugen ;-)

4,75 von 5 riesige Gartenzwerge

***************

Anmerkung: was das Cover mit dem Buch zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Dafür kann jedoch die Autorin nichts, Cover werden i.d.R. vom Verlag festgelegt. Und manchmal frage ich mich, was in den Köpfen von Covergestaltern vorgeht ...

SaschaSalamander 23.08.2012, 09.35 | (0/0) Kommentare | PL

Der Junge, der Gedanken lesen konnte

boie_gedanken_1.jpgINHALT

Valentins Vater und seine restliche Familie blieben damals nach dem Tod seines Bruders Artjom in Kasachstan, nur er und seine Mutter kamen nach Deutschland. Und nun heißt es wieder umziehen, denn seine Mutter hat eine Stelle als Marktleiterin bekommen. In seinem neuen Zuhause muss er sich erst zurechtfinden, hat noch keine Freunde. Auf dem Weg in die Bücherei begegnet er Mesut, der in seiner Straße wohnt und der ihm nicht geheuer ist. Und auf dem Friedhof lernt er Herrn und Frau Schelinsky kennen, Herrn Schmidt, "Dicke Frau" und den Friedhofsgärtner Herr Bronnislav, eine gesellige Runde. Mit ihnen versteht er sich gut, er kommt nun immer öfter auf den Friedhof. Bald freundet er sich auch mit Mesut an, der ihn begleitet. Eines Tages erfährt Valentin von einem Verbrechen, und Herr Bronnislav könnte darin verwickelt sein, aber das will Valentin nicht glauben und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Dabei ist ihm seine neuentdeckte Gabe, Gedanken lesen zu können, sehr hilfreich.


FANTASY (GEDANKENLESEN)

Obwohl Valentin Gedanken lesen kann, ist dies nicht der Kern des Buches, den Leser erwartet kein Fantasy. Der weise Herr Schmidt kommentiert es treffend, wenn er meint, er habe schon so viel gesehen und erlebt, warum also nicht auch einen Jungen, der Gedanken lesen kann? Außerdem ist Valentin gar nicht so begeistert, ihm wird übel dabei, und er fühlt sich wie ein Eindringling, wenn er die persönlichen Gefühle der anderen teilt, er vermeidet es nach Möglichkeit. Eigentlich hätte man diesen Aspekt komplett aus dem Buch weglassen können, es hätte nicht gefehlt. Trotzdem bietet es natürlich zusätzlichen Diskussionsstoff und ist eine nette Ergänzung zur eigentlichen Handlung.


KRIMI (VERBRECHEN)

Die Aufklärung des Verbrechens ist wichtig, aber nicht der Kern. Valentin vergleicht sein Vorgehen immer mit der Kinderbande, von der er schon viele Bücher gelesen hat. Das fand ich nett umgesetzt von der Autorin, nimmt es doch freundlich das Genre der Kinderdetektive ein bisschen aufs Korn, obwohl es ja selbst ein Jugendkrimi ist.


MULTIKULTI

Ganz nebenbei wird auch das Thema der Multikulti-Gesellschaft angesprochen. Valentin kommt aus dem Kasachstan, Mesut ist Türke, Bronnislav ist Pole (wie er niemals müde wird zu betonen, wenn Herr Schmidt wieder "Alter Schwede" von sich gibt). Es ist allen egal, woher sie kommen, und doch bringen sie alle ihre eigenen Geschichte mit. So besteht in Mesuts Familie z.B. die Frage, ob sie den Urlaub in der Türkei verbringen wollen oder doch auf Gran Canaria. Auch Mesut erinnert sich viel an seine alte Heimat und überlegt, wo er nun hingehört. Doch wie gesagt ist dies etwas, das nebenbei geschieht und auf diese Weise den jungen Hörern ganz entspannt aufzeigt, wie Menschen verschiedenster kultureller Hintergründe miteinander auskommen und ihren Alltag erleben.


TOD UND STERBEN

Was den Großteil des Buches ausmacht, ohne sich dabei unangenehm in den Vordergrund zu drängen, das ist das Thema Tod und Sterben. Hier gehen alle verantwortungsvoll und bewusst damit um, aber ohne Tammtamm, ohne Angst. Sterben wird als ein Teil des Lebens betrachtet. Natürlich stellt sich auch die Frage, warum junge Menschen sterben müssen und ob das gerecht ist. Durch die entspannte Grundhaltung der erwachsenen Protagonisten ist das Buch sehr informativ und interessant für Kinder zu lesen. Die Freunde treffen sich auf dem Friedhof, weil sie kein Geld für einen Schrebergarten hatten, also beschlossen sie ihr Grab schon zu Lebzeiten zu kaufen und dieses kleine Fleckchen vorab zu nutzen. Sie möchten ihre "Nachbarn" kennenlernen, sie genießen das Leben und akzeptieren den Tod, freuen sich an der Natur, den wiederkehrenden Besuchern, bringen sogar Würstchen und Salat mit, sitzen auf Klappstühlen. Ob dies eine lebensbejahende Einstellung ist oder verwerfliche Störung der Totenruhe, das ist ein ständiger Streitpunkt zwischen dem Antagonisten (Verwalter des Friedhofs) und Familie Schelinsky. Kindern und Jugendlichen wird dadurch gelehrt, dass der Tod nichts Beängstigendes ist. Man soll das Leben genießen und Feiern, darf sich vor dem Tod aber nicht verschließen.

Da jedoch sein Bruder noch als Jugendlicher starb, hat unser Junge nun mit vielen Fragen zu kämpfen. Er trägt das Gefühl in sich, dass Artjom der bessere von ihnen war und er nun schlechter ist, seinen Bruder niemals ersetzen kann. Er fühlt sich schuldig, weil er kurz vor dem Unfall einen Streit mit ihm hatte, ohne den es vielleicht nie passiert wäre. Und sein Handeln richtet er stets danach, was sein großer Bruder getan hätte, denn der war klug und mutig. Während die Familie nicht mit ihm über diese Probleme reden kann und will, findet er in den Freunden auf dem Friedhof und in Mesut nun endlich Menschen, die ihm weiterhelfen. Besonders der alte Herr Schmidt gibt ihm Kraft und hilft ihm, sich von der Vergangenheit zu lösen und nun endlich vorwärts zu leben.

Und all das - ohne Zeigefinger, ohne umständliche Erklärung, sondern zwischen den Zeilen, verpackt in einen gemütlichen Krimi mit sympathischen Charakteren und zwei gewitzten jugendlichen Identifikationsfiguren.


CHARAKTERE

Zu den Charakteren habe ich im Abschnitt Genre ja eben bereits einiges erzählt. Sie wachsen dem Leser sofort ans Herz. Jugendlichen, weil sie sich in den beiden Jungs wiederfinden und von den Erwachsenen verstanden fühlen. Und den erwachsenen Lesern, weil die Kids wirklich sehr realitisch und kindlich - gewitzt dargestellt sind und die Erwachsenen mit ihrer aufgeschlossenen, lebensbejahenden Art gefallen. Jeder von ihnen trägt sein Päckchen mit sich, viele kleine Geschichten verbergen sich hinter den einzelnen Lebensläufen.

Schön zu beobachten ist auch, wie Valentin sich im Laufe der Handlung verändert: seine Einstellung zum verstorbenen Bruder überdenkt, sich mit dem anfangs von ihm gefürchteten Mesut anfreundet und wie er lernt mit seiner Gabe des Gedankenlesens umzugehen. Mit Valentin, Mesut, Schelinsky, Schmidt (samt Hund Jiffles) und Bronnislav hat Kirsten Boie Charaktere geschaffen, die mir seit dem Lesen vor einigen Tagen noch immer durch den Kopf gehen. Ich habe sie liebgewonnen, als wären es gute Freunde, und nur ungern habe ich mich am Ende von ihnen getrennt.


SPRECHER

Can Acikgöz ist ein sehr junger Sprecher, Jahrgang 2000. Er gewann 2012 den Lesewettbewerb des Deutschen Buchhandels und bekam nun die Möglichkeit, dieses Hörbuch zu sprechen. Und ich war wirklich begeistert! Mag sein, dass er erst 12 ist, dass er kein professioneller Sprecher ist, aber dafür macht er seine Sache wirklich großartig. Und ich finde es eine wirklich mutige und vor allem begrüßenswerte Idee, dass der Verlag keinen professionellen Sprecher engangiert hat sondern eben Can. Dadurch ist die CD den Kindern näher, als würde ein jugendlicher oder gar erwachsener Sprecher den Text einlesen.

Ja, hier und da macht er kleine Fehler, und natürlich hört man, dass er sich Mühe gibt (bei einem professionellen Sprecher klingt es locker und selbstverständlich). Aber gerade das macht es auch überaus sympathisch, ich habe ihm sehr gerne zugehört. Ich habe etwa eine Drittel CD gebraucht, um mich an seine Betonung zu gewöhnen (da er eben noch sehr bewusst liest, betont er genau und oft etwas zuviel, sodass die Sprachmelodie sehr ungewohnt ist im ersten Moment), und danach war ich wie gesagt ziemlich begeistert über das, was er da an Leistung abgeliefert hat. Seine Aussprache ist wirklich sehr gut und ohne weitere Beanstandungen, ein klar verständliches Hochdeutsch ohne große Ausrutscher. Sein Sprachtempo ist optimal, die Stimme klingt angenehm im Ohr und hat einen recht guten Wiedererkennungswert.

Was ich besonders anmerken möchte ist sein Talent, verschiedene Sprechweisen, Dialekte und Sprachmuster zu imitieren. Jeder Charakter hatte eine eigene Stimme, eine eigene Melodie, einen ganz eigenen Akzent. WOW! Das ist etwas, das selbst unter den geübten Sprechern nicht alle beherrschen, und Can scheint da wirklich eine natürliche Begabung dafür zu haben. Mesut mit seinem "ey Alder" ebenso wie die verwirrte "Dicke Frau" oder Bronnislav mit seinem polnischem Akzent, der bedächtige alte Herr Schmidt, sie alle bekommen ihre eigene Note verpasst, das Hören war für mich ein richtiger Genuss.


FAZIT

Ein herausragendes Kinderbuch, das wirklich allen Anforderungen von Pädagogik und Unterhaltung gerecht wird. Ich bin ja immer sehr kritisch in der Vergabe meiner Punkte, aber ich wüsste wirklich nicht, wo ich hier etwas abziehen sollte. Im Gegenteil, gerne lege ich noch ein bisschen drauf, als kleinen Bonus für Can, der hier wirklich eine bemerkenswerte Leistung erbracht hat. Can, super gemacht, ich hoffe auf weitere Kinder- und bald auch Jugendhörbücher von Dir!

Wertung: 12 von 10 Golddollar


SaschaSalamander 20.08.2012, 16.37 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

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