SaschaSalamander

Blogeinträge (Tag-sortiert)

Tag: Tip

Zwienacht

weber_zwienacht_1.jpgAUTOR

>Raimon Weber< kenne ich vor allem durch seine Drehbücher zu den Hörspielen des >DARKSIDE PARK< und >PORTERVILLE<, GABRIEL BURNS und >MINDNAPPING<. Er hat jedoch auch einige Romane geschrieben. Neugierig, wie ich bin, muss ich die natürlich alle irgendwann lesen. Da ZWIENACHT mich vom Inhalt her am meisten ansprach, habe ich also mit diesem begonnen.


INHALT

Nach einem peinlichen und für ihn unerklärlichen Vorfall zieht Richard, Bestsellerautor, in eine neue Stadt, er taucht unter und beginnt ein neues Leben. Doch abgesehen von seiner Schreibblockade leidet er plötzlich an Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Er sucht einen Psychiater auf und hofft sein Leben endlich wieder in geregelte Bahnen zu bringen. Dann ist da noch Maria, die freundliche Krankenschwester des mobilen Pflegedienstes und einige Nachbarn. Immer enger webt sich das Band, das sie verbindet und auf ein gemeinsames Ende zusteuern lässt. Doch was geht tatsächlich in diesem seltsamen Haus vor sich? Ist Richard krank, oder steckt mehr dahinter?


AUFBAU

Spannung baut sich hier auf drei Ebenen auf: im ersten Drittel strebt der Leser danach, mehr zu erfahren über die seltsamen Vorfälle, die zu Richards Umzug führten. Es passiert nicht wirklich etwas, der Autor führt gemütlich und mit Bedacht einzelne Figuren in den Roman ein, zeigt dem Leser - ganz typisch im Horrorgenre, absoluter Klassiker - eine alltägliche, scheinbar normale Welt mit einem etwas aus der Bahn geratenen Protagonisten. Kein Grund zur Sorge, alles in Ordnung, kleine Unregelmässigkeiten gibt es überall. Der Leser wiegt sich in Sicherheit, wäre da nicht die seltsame Vorgeschichte und die Frage, was es mit den einzelnen Charakteren auf sich hat ...

Dann im zweiten Drittel beginnt es langsam unheimlich zu werden. Lauter kleine Vorfälle, hier ein seltsames Geräusch, dort eine leicht verzerrte Wahrnehmung, dort eine komische Bemerkung, eine ungewöhnliche Beobachtung. Dinge liegen da und sind plötzlich weg, ein seltsamer Anruf. Dazu eine Szene, die recht eklig ist und vermutlich über bloße Einbildung hinausgeht. Aber wer zur Hölle tut so etwas? Die Fassade bröckelt, der Alltag bekommt - wie auch das Mauerwerk in Richards Wohnung - tiefe Risse. Der Leser bekommt eine Gänsehaut, schaltet abends kurz das Licht ein, bevor er ins Bad geht.

Und im letzten Drittel zieht Raimon Weber alle Register. Langsam kommt Licht in das Geschehen, die Charaktere finden zueinander, das Geschehen ist am Höhepunkt, der Leser rast nur so über die Seiten und kann das Buch nicht mehr beiseite legen. Man ekelt sich aber muss doch hinsehen, es ist grausig aber man will es nonstop lesen, und bitte nachts das Licht dauerhaft brennen lassen!


CHARAKTERE

Drei Protagonisten gibt es zu Beginn: Richard Gerling, der Hauptprotagonist. Billy, anfangs ein Fremder für den Leser. Und "den Reisenden", einen brutalen Serienmörder. Anfangs ist unklar, wie sie zusammen hängen. Billy und der Reisende bleiben lange im Dunkeln, über Richard erfährt man bald mehr. Was ihn antreibt, was ihn bewegt, das erfährt man recht schnell. Warum er jedoch so seltsam ist, das ist Teil der Kernfrage. Dadurch fällt es schwer, sich in eine der Figuren hineinzuversetzen, sie sind bewusst undeutlich gezeichnet. In ZWIENACHT ist man weniger ein Beteiligter als vielmehr ein Zuschauer in erster Reihe. So, wie die Charaktere sich untereinander beobachten, so beobachtet auch der Leser und muss schrittweise die Puzzleteile an die richtige Stelle setzen.

Eine Figur gibt es jedoch, die überdeutlich hervorsticht: Maria. Ich mochte sie vom ersten Moment, und sie wurde immer sympathischer, mit ihr habe ich mitgefiebert, gelitten, gezweifelt, gebangt. Sie ist der Lichtstrahl in dem ansonsten eher düsteren Setting.  


EIGENE MEINUNG

Hier bei ZWIENACHT saß an Ort und Stelle, das Buch ist rückblickend in sich absolut stimmig. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass eine der Figuren zwar die Spannung erhöhte und den obligatorischen Sex-Sells-Aspekt in den Thriller brachte, jedoch nicht wirklich etwas zur Handlung beitrug und somit für mich eher überflüssig war (aber das ist Geschmackssache. Ich kann mir vorstellen, dass andere Leser genau diese Figur besonders gelungen fanden). Und auch, wenn der Anfang der Atmosphäre dient und insgesamt sehr gut zum Aufbau passt, hatte ich die ersten 20 Prozent des Buches noch nicht wirklich das Gefühl "ich muss jetzt unbedingt sofort weiterlesen". Doch nachdem ich dann in die Handlung hineingefunden hatte, wurde es recht bald zum Pageturner.

Das Korrektorat - zugegeben, ich bin von der Psychothriller GmbH Besseres gewohnt, hier hat man ein paar Kleinigkeiten übersehen. Aber gut, es waren keine drastischen Fehler, man konnte flüssig darüber hinweglesen.

Trotz dieser beiden kleinen Anmerkungen - ich war absolut begeistert, nachdem ich das Buch abgeschlossen hatte. Was mir an Raimon Weber immer wieder gefällt: er versteht es, Spannung aufzubauen und mit Bildern zu arbeiten, die eher unterbewusst wirken. Viele kleine Symbole und Andeutungen, kurze Momente, Dialogfetzen, das passende Wetter, immer das richtige Wort. Horror im Oldschool - Style, wunderbar ruhig, subtil und unaufdringlich. Dann mal ein, zwei eklige oder derbe Momente, um den Leser so richtig wachzurütteln, aber sofort fährt er wieder herunter und deutet auf den Riss in der Fassade - als wolle er verschmitzt fragen "na, willst Du WIRKLICH wissen, was dahinter auf Dich lauert?" ...

Und was mir hier besonders gefällt: die Lösung ist schlüssig und klar, die Handlung sehr gut geplottet. Von Beginn an gibt es viele kleine Hinweise, und doch wusste ich bis zum letzten Moment nicht exakt, was nun hinter all den Vorfällen steckt. Es ist lange unklar, in welche Richtung sich ZWIENACHT entwickeln wird, ob es nun ein Mindfuck ist, ob übernatürliche Elemente im Spiel sind, ob jemand wahnsinnig wird, ob es blutig endet oder oder oder. Sehr, sehr oft wurde ich schon von anderen Autoren enttäuscht in diesem Genre. Hier jedoch wird alles sehr schön aufgelöst. So simpel und logisch, dass man sich fast schon fragt "wie, das war es jetzt"? Und DAS gefällt mir: so eine abgef*ckte, verdrehte Handlung und so eine simple Lösung. Genial! Darauf muss man als Autor erst einmal kommen.


FAZIT

Ein Roman, der mir außerordentlich gut gefallen hat, nachdem ich mich etwas eingelesen hatte. Raimon Weber versteht sein Handwerk und überzeugt die Leser mit eindringlichen Bildern und überzeugenden Plots.

Wertung: 7,5 von 10 blaue Schlieren

SaschaSalamander 12.06.2013, 09.16 | (0/0) Kommentare | PL

Im Schatten der Götter

AUTOR

Christian von Aster, das musst ich sofort lesen! Von ihm sind die >MITTERNACHTSRABEN<, >DER WASSERSPEIER FLEDERMEIER<, >TIMMY KENNT DEN WEIHNACHTSMANN<, er ist Mitautor des >STIRNHIRNHINTERZIMMER<, einige weitere Titel liegen noch in meinem Regal und warten darauf, gelesen zu werden. Er gehört zu den wandlungsfähigen Autoren, die sich in verschiedenen Genres bewegen. Daher ist es immer wieder eine Überraschung, was mich dieses Mal erwarten wird. Garantiert aber immer: intelligenter Humor, Wortgewandheit und eine ziemlich abgefahrene Story. Einen Krimi hatte ich von ihm noch nie gelesen, umso gespannter war ich also auf diesen Titel.


INHALT

Ein Einbrecher öffnet den Tresor, holt ein Kästchen hervor. Der Sicherheitsdienst stellt ihn. Zack, Szenenwechsel, die Polizei vor Ort, der Sicherheitsdienst und der Einbrecher alle tot, ohne erkennbare Ursache erstickt. Der neureiche Archäologe, in dessen Haus eingebrochen wurde, bittet seinen Freund und Kollegen um Hilfe. Kommissar Mathesdorf hat alle Hände voll zu tun, dann wird auch noch der Seuchenschutz involviert. Die Ereignisse überschlagen sich. Ein uralter und ein junger Stammesangehöriger, eine afrikanische Schönheit und ihr Ehemann, eine geheimnisvolle Schachtel, uralte Gottheiten. Und immer mehr Tote, die nach und nach qualvoll ersticken.


CHARAKTERE

Es gibt keinen einzelnen Protagonisten. Dafür gibt es allerdings immer vereinzelte Charaktere, die vorübergehend im Mittelpunkt stehen, so etwa der Archäologe, sein Kollege, der Kommissar, die Afrikaner. Gelegentlich auch Charaktere, die kurz vorgestellt werden, bevor sie eines grausamen Todes versterben.

Man fiebert also mit keiner bestimmten Person mit, kann sich aber in alle sehr gut hineinversetzen, ihre Beweggründe nachvollziehen. Sie sind wunderbar beschrieben: mir gefällt, dass von Aster nicht die billigen Klischees bedient (und falls doch, dann in diesen wenigen Fällen sehr selbstironisch) und eigenständige Figuren erschafft, die so unterschiedlich und am Ende doch alle gleichermaßen menschlich sind.


PERSPEKTIVE

Von Aster schreibt hier nicht wie meist üblich aus der dritten Person heraus, sondern eindeutig als olympischer Erzähler. Er gibt Hinweise auf Kommendes ("er ahnte nicht, dass später", "doch es sollte ganz anders kommen" usw), und er gewährt dem Leser Einblick in die unterschiedlichsten Charaktere und Situationen, mal von innen heraus, mal als Beobachter. Dieser ständige Wechsel passt hervorragend zum Buch, da es die Hilflosigkeit des Kommissars und der anderen Beteiligten sehr gut widerspiegelt. Der Leser wird von einer Szene in die nächste geworfen, und wieder ändert sich der Blickwinkel, man weiß gar nicht so wirklich, wohin man seine Aufmerksamkeit richten soll, wer nun eigentlich die Schlüsselfigur ist, worum es überhaupt geht und worauf alles abzielt. Während diese Technik bei anderen Büchern eher wie ein gütiger Erzähler wirkt, der einfach nur den Überblick hat, fühlt man sich hier regelrecht ausgeliefert. Der Leser als Marionette des Allwissenden.


STIL, SPRACHE

Von Aster lese ich unter anderem deswegen so gerne, weil er hervorragend mit Worten umgehen kann. Alliterationen, perfekt gespitzte Pfeile, das richtige Wort an der richtigen Stelle. IM SCHATTEN DER GÖTTER weist weniger dieser wortreichen Pointen auf. Zugegeben, ich hätte es wohl auch nicht sofort als Werk des Autors erkannt. Dafür beweist er hier, dass er nicht nur mit Worten und Sätzen spielen kann, sondern auch mit ABsätzen, Inhalten und Zusammenhängen.

Das Buch ist recht ernst und düster geschrieben, und doch ist es voll mit trockenem Humor und zynischen Betrachtungen. Kann man in den anderen Büchern oder Gedichten einzelne Sätze herauspicken, die für sich betrachtet witzig sind, so sind es hier oft die Zusammenhänge, die etwas erst witzig erscheinen lassen. Die Sätze für sich betrachtet sind meist recht nüchtern.

Trotzdem, ein paar wenige Sätze, die auch für sich stehen können, gibt es natürlich. Sie erzählen Geschichten zwischen den Zeilen, ein hintersinniger Humor hinter den offensichtlichen Aussagen. Zum Beispiel: "Eine Frau, mit der er irrtümlich einmal geschlafen hatte" oder "Er hatte den Sex zweier Jahre nachzuholen. Zumindest den zweisamen Teil". Sätze, die manchmal erst kurz sacken müssen, bevor sie sich in ihrer Aussage komplett erschließen, die dafür umso nachhaltiger wirken und die Geschichte intensivieren. Nein, laut gelacht habe ich an keiner einzigen Stelle. Dafür innerlich so oft geschmunzelt oder böse gegrinst wie schon lange nicht mehr.


AUFBAU

Da das Buch zwischen verschiedenen Beteiligten springt und die Erzählweise oft variiert, muss man konzentriert folgen. Jeder Charakter hat einen unterschiedlichen Wissensstand, gelangt auf andere Weise an seine Informationen oder hat diese bereits, seien es die falschen oder richtigen. Dadurch verläuft es zwar chronologisch, dennoch ergeben sich sehr viele Sprünge, nicht im zeitlichen Ablauf aber hinsichtlich der Voranschreitens der Handlung.

Fällt es mir normalerweise leicht, ein Buch in verschiedene Passagen zu gliedern und den Spannungsaufbau zu schildern, so ist es hier kaum möglich. Obwohl es so geradlinig geschildert ist, wirkt es doch vom ersten Moment an episodenhaft. Und all diese gemeinsamen Episoden ergeben ein gemeinsames Bild.

Eine Erzähltechnik, die zu analysieren diese Rezension sprengt aber sehr interessant wäre. Dazu fällt mir wieder ein: um die Regeln zu brechen, muss man sie beherrschen. Von Aster beweist in diesem Werk ganz klar, dass er die Regeln der Erzähltechnik meisterlich beherrscht und es genießt, sie vor unseren Augen komplett auseinanderzunehmen. Sehr zur Freude des Lesers, der dadurch kaum etwas vorhersehen kann und in jedem Kapitel aufs Neue überrascht wird.


ATMOSPHÄRE

Das Buch ist insgesamt sehr atmosphärisch. Trotz des Humors, trotz der vielen wechselnden Perspektiven und "Kameraführungen" (wäre es ein Film, ich wüsste sofort, wo und wie ich die Kamera platzieren und bewegen müsste. Das geht mir nur in einigen besonders bildreichen Büchern so) erschafft der Autor eine Atmosphäre, der man sich nicht mehr entziehen kann. Besonders ab dem Moment, als die afrikanische Frau das Spielfeld betritt, verdichtet sich alles um einen herum, meint man sich selbst inmitten der Szene, spürt die Atemnot der Opfer, wird zu einem Tänzer in Trance inmitten von Trommeln und Räucherwerk.


FAZIT

Christian von Aster mal anders, aber genial wie immer. Ein in seiner Machart unkonventioneller Krimi, der in Sprache, Erzählweise, Aufbau und Charakterdesign von den bekannten Mustern abweicht und den Leser zu überraschen weiß. Wer ein Werk dieses Autors liest, sollte sich sowieso gewahr sein: wirf alles über Bord und vergiss, was Du bisher wusstest. Folge einfach, egal wohin ...

Wertung: 9,5 von 10 Dackel im Treppenhaus


SaschaSalamander 06.06.2013, 08.34 | (0/0) Kommentare | PL

Das Haus am Abgrund

freund_haus_1.jpgDie letzten Worte des Sterbenden sind eine Botschaft: ein Mord ist damals geschehen! Doch was will er den Hinterbliebenen mitteilen? Sollen sie den Fall lösen? Wollte er sich von Schuld freisprechen? Und vor allem: wie soll man einen Mord aufklären, wenn man weder weiß, wer ermordet wurde noch wann oder wo dieses Verbrechen stattfand? Marieke Kielmann erbt eines der beiden Häuser des alten Waldow, und alles deutet darauf hin, dass sich der Mord in diesem Ort, in diesem Haus ereignet haben könnte. Gemeinsam mit dem Arzt des Verstorbenen und dem Sohn der Haushälterin begibt sie sich auf die Suche nach den Schatten der Vergangenheit. Sie ahnt nicht, wie sehr ihre Nachforschungen das Leben in dem kleinen Dorf auf den Kopf stellen und welches Unheil sie heraufbeschwört ...

Ein Krimi, der mich sehr neugierig machte. Zum einen durch die interessante Ausgangssituation. Und zum anderen, weil der Autor >Marc Freund< schon viele Folgen für das Krimihörspiel LADY BEDFORT sowie weitere Hörspielserien geschrieben hatte. Ziemlich schnell habe ich das Buch gelesen, und gerne möchte ich das mit Euch teilen :-)


CHARAKTERE

Das Buch ist aus neutraler Erzählperspektive geschrieben, sodass je nach Kapitel immer wieder ein andere Charakter beleuchtet wird. Marieke und ihr Mitstreiter Vogt nehmen dabei als Protagonisten eindeutig den Hauptteil ein, dennoch gewinnt der Leser auch Einblick in all die anderen Dorfbewohner. Dadurch gibt es keine klare Figur, mit der man sich identifizieren könnte oder mit der man speziell mitfiebert. Dafür aber entwickelt der Autor das faszinierende Portrait eines kleinen Dorfes voll dunkler Geheimnisse. Während man die Beweggründe von Marike und Vogt erfährt, bleiben die anderen Figuren weitgehend von außen sichtbar. In den wenigen Momenten, in denen der Leser Einblick erhält, dient dies weniger zur Erhellung des Falles als vielmehr dazu, neue Fragen aufzuwerfen und die Spannung zu erhöhen.

Was mich sehr freute: das Personenregister am Ende. Eigentlich nur ein kleiner Aufwand für Autor und Verlag, für mich als Leser eine große Hilfe. Ich wünschte, alle Verlage würden dies am Ende eines Buches drucken!


SCHREIBSTIL

Wie bereits erwähnt, ist das Buch aus neutraler Erzählperspektive geschrieben, rein beobachtend mit gelegentlichen Blicken ins Innere. Dadurch bleibt der Leser der gesamten Handlung wie ein Zuschauer recht distanziert. Ein spannendes Szenario, das geboten wird und dem man gerne folgt, an dem man selbst jedoch nicht beteiligt ist.

Faszinierend an diesem Buch finde ich, wiesehr die Handlung über die Dialoge vorangetrieben wird. Es gibt dialoglastige und eher erzählende Bücher. So enorm dialoglastig wie DAS HAUS AM ABGRUND habe ich selten ein Buch gelesen. Anfangs fand ich das zugegeben etwas verwirrend. Einige Seiten, nachdem ich mich eingelesen hatte, gefiel mir dieser Stil jedoch recht gut. Es ist ungewöhnlich und dadurch einmal etwas komplett anderes als sonst. Vor allem ist es spannend zu verfolgen, wie die Handlung sich in den Dialogen entwickelt, die Charaktere ihre Persönlichkeit entfalten und die Ermittlung voranschreitet. 


KRIMIHANDLUNG

Marc Freund zeigt hier, was er wirklich hervorragend kann: gut zusammenhängende, in sich schlüssige Kriminalfälle erschaffen. Es gefällt, wie am Anfang eine unscheinbare Situation nach und nach immer mehr zutage fördert, bis man am Ende vor dem großen Gesamtbild steht. Mir gefallen die "klassischen", altmodischen Krimis, in denen das Blut nicht aus den Seiten tropft, in denen keine verwesten Überreste vor sich hingammeln, in denen nicht auf jeder Seite neue Superlative präsentiert werden. Sondern in denen ein oder mehrere ermittelnden Personen etwas aufdecken und die psychischen Hintergründe der Geschichte weit bedeutender sind als das nach außen Sichtbare. Ich frage mich gerade bei Vielschreibern, woher sie immer wieder die Ideen nehmen, solche Zusammenhänge zu erschaffen und diese dann ohne Verwirrung verständlich und nachvollziehbar auf Papier zu bringen. Freund jedenfalls beherrscht dies ohne Frage, und das ist die große Stärke des Romans.


REGIONALKRIMI

Neben der herrlich düsteren Krimiatmosphäre gestaltet der Autor sehr gut den Lokalkolorit. Flensburger Außenförde, dort kennt Freund sich bestens aus, ist er ja selbst dort aufgewachsen. Die Liebe zu seiner Heimat, aber auch die kritischen Betrachtungen, das vermag er dem Leser wunderbar zu vermitteln. Die Menschen in ihren Eigenheiten, die Landschaft, all das wird sehr anschaulich beschrieben, dass man meint, man sei selbst vor Ort.


PERSÖNLICHE MEINUNG

Die Krimihandlung gefiel mir außerordentlich gut, und sie ist der Grund, warum es mir schwer fiel, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Es ist ein typischer Oldschool-Krimi, wie ich ihn liebe, sehr gut geplottet und durchdacht.

Einzig schade finde ich, dass durch den distanzierten und ungewöhnlichen (wenn ich auch durchaus interessanten) Schreibstil der Zugang zum Buch erschwert wird. Ich konnte nicht wirklich mit Marie und Vogt mitfiebern, und selbst in den lebensbedrohlichen Situationen fiel es schwer mit ihnen zu bangen, zu sehr fühlte ich mich als Zuschauer. Das war dennoch weniger störend als ich anfangs erwartet hatte: da ich aufgrund der Handlung stets gefesselt war und das Buch ein absoluter Pageturner ist, konnte ich über diesen Aspekt hinwegsehen. Statt wie sonst eine einzelne Person war es hier ein gesamtes Dorf, welches mir im Laufe des Buches immer enger ans Herz wuchs ...


FAZIT

Ein gelungener Krimi, dessen ungewöhnliche Ausgangssituation viel verspricht und auch hält. Marc Freund weiß, wie ein guter Plot aussehen muss und erschafft eine Geschichte voller menschlicher Tragödien. Ein Cosy wie aus dem Lehrbuch, so müssen gute Krimis sein :-)

Wertung: 4 von 5 Dahlien

SaschaSalamander 05.06.2013, 09.05 | (0/0) Kommentare | PL

Gefangen im Sexverlies

AUTOR

Von Tomàs de Torres habe ich bereits >SKLAVENJAGD< und >DAS GEHEIMNIS DER SKLAVIN< gelesen. Ich mag es, dass seine Titel zwar hart zur Sache kommen, es aber dennoch eine spannende Handlung gibt und man eher von einem Thriller denn einem reinen Erotiktitel reden kann. Besonders gespannt war ich, da der neueste Titel nicht wie die anderen im Marterpfahlverlag erschienen ist, sondern diesmal bei UBooks.


COVER UND TITEL


Schade an der Veröffentlichung finde ich, dass der Titel so reißerisch daherkommt. Gerade von einem Publikumsverlag (CHECK BEGRIFF) hätte ich doch etwas mehr Feingefühl gegenüber der weiblichen Leserschaft erwartet - gerade diese wäre (nicht nur, aber besonders) eigentlich Zielgruppe des Buches, wird sicher aber von Titel und Cover abgeschreckt. Wäre mir der Autor nicht bekannt, ich hätte das Buch mit spitzen Fingern beiseitegelegt, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen. Aber da Ihr jetzt meine Rezension lest, hoffe ich Euch davon zu überzeugen, dass es nicht nur einen abschätzigen Blick wert ist sondern sogar die komplette Lektüre.

Mehr dazu hatte ich vor einiger Zeit ja bereits >hier< geschrieben.


INHALT

Der Klappentext gibt sehr viel vom Inhalt wider. Gerne würde ich es anders versuchen, doch es ist nicht möglich, sonst klänge der Roman zusehr nach "sie trifft ihn, er ist dominant, und sie verfällt ihm mit Haut und Haar. Doch er hat auch eine dunkle Seite". Das wäre das Klassische, aber so einfach ist es eben nicht.

Paloma beginnt ihren neuen Job in einem kleinen Verlag. Ihr vorgesetzt ist der attraktive Lorenza Aquila. Anfangs ablehnend, zeigt er sich ihr gegenüber bald zugänglich, und sie verbringen eine gemeinsame Nacht. Paloma träumt im Anschluss einen düsteren Traum von Kerker und Folter. Wannimmer sie mit Lorenzo schläft, werden diese Träume von Mal zu Mal eindringlicher. Als sie ihm davon erzählt, reagiert er sehr unerwartet und versucht die Beziehung zu beenden. Paloma spürt, dass es mehr damit auf sich hat und versucht, ihn mit ihrer Liebe an sich zu binden und ihn und sich von den Träumen zu lösen ...


GENRE

Eigentlich ein normaler SM-Roman. Allerdings wage ich es, diesen Titel auch in die Reihe der Romane einzureihen, die bevorzugt von experimentierfreudigen Frauen gelesen werden, für die Shades of Grey nur ein Kinderspiel war, die aber dennoch nicht sofort zu den Hardcoretiteln mit grenzwertigen NonCon-Praktiken greifen wollen. Es werden eben beide Seiten bedient:

Zwischen Paloma und Lorenzo besteht eine innige Liebe voller Romantik, Zärtlichkeit und Leidenschaft. Man spürt das Knistern zwischen den beiden, die Liebesszenen sind anregend beschrieben und wissen zu gefallen. Streicheln, Küssen, Kerzenlicht, edles Essen, Ausgehen im Restaurant, Liebesschwüre und die Gewissheit "ich würde alles für meine Liebe tun".

Auf der anderen Seite gibt es hier recht ordentlichen SM. Dabei wird der Autor jedoch nicht vulgär und eklig, sondern er hört immer genau da auf, wo das Kopfkino anfängt und es unnötig ist, weitere Worte zu verlieren. Ein Folterkeller, das bietet deutlich mehr als das Zimmerchen des Christan Grey, oh ja. Ein glühendes Kohlebecken, eine Streckbank, eine Leiter, ein Pranger, ein Tauchbecken, jede Menge schmiedeeiserne Ketten und Fesseln. Doch, wie gesagt, es wird weder blutig noch brutal, hier ist es vor allem das Kopfkino, das angeregt wird und sehr viel Freiraum für anregende Phantasien lässt, teils auch recht heftig aber niemals zuviel. Dadurch, dass es vor allem auch Traumsequenzen sind, in denen diese Dinge geschehen, wird die Situation zusätzlich etwas entschärft. Und dann ist da noch der geheimnisvolle Retter, der Paloma im Traum zur Seite steht.


AUFBAU

Wie auch in seinen anderen Romanen beginnt Tomàs de Torres seine Geschichte sehr langsam, es dauert viele Seiten, bevor der erste Hinweis auf SM kommt. Und selbst da geht es noch lange nicht zur Sache, sondern wird nur einmal erwähnt. Paloma ist unerfahren, und erst nach und nach wird sie durch ihre Kollegin an die Thematik herangeführt. Viele Leser werden sich wohl mit der Protagonistin identifzieren können, das wachsende Verlangen und die Faszination ebenso verstehen können wie auch die anfängliche Angst und Vorsicht. Das Buch ist aufgebaut wie eine schöne Session: gemütlich, ruhig, mit viel Körperkontakt, Kennenlernen, sehr viel Vorspiel, jede Menge Reizen und Anheizen. Dann wird es direkter, fordernder, schneller, das Tempo des Buches zieht an, die Worte werden klarer und der Inhalt intimer. Das Verlangen wird heftiger, die Erotik im Buch wird sehr direkt und heftig, immer schneller, die Handlung rast voran, bis es sich in einem Showdown entlädt ... nur, einschlafen sollte Paloma danach nicht mehr, ...


STIL

Der Stil des Autors hat mich in diesem Buch überrascht. Zwar waren in den beiden anderen Büchern die Protagonisten auch weiblich, dennoch erkannte man klar den männlichen Autor, einfach aufgrund der teils auch sehr männlichen erotischen Phantasien dahinter, und als Leser hätte ich eher Männern dazu geraten oder in diesem Genre bewanderten Frauen. Dieses Buch hier ist wesentlich weiblicher, ohne deswegen an Intensität zu verlieren. In DAS GEHEIMNIS DER SKLAVIN ist alles sehr nüchtern und sachlich, in SKLAVENJAGD wird der vermeintliche Held sehr schnell zum Feind. Hier dagegen besteht von Beginn an eine Zuneigung, wie sie eher für Romance typisch ist. Umso mehr verstehe ich nicht, warum man das Buch nicht für diese weibliche Zielgruppe vermarktete sondern so gestaltete, dass es nur in der Perversenecke am Bahnhof Leser findet, nicht jedoch auf dem Präsentierstapel in großen Buchhandlungen? Verdient hätte der Titel es durchweg!

Wortwahl, Darstellung der erotischen Szenen, Inhalt, Aufbau - zugegeben, würde ich den Autor nicht kennen, ich hätte auf das Pseudonym einer Frau getippt. Und das meine ich als großes Kompliment, denn gerade in diesem Genre sind es vor allem Frauen, die in letzter Zeit immer erfolgreicher werden und die Leser an sich binden.


SONSTIGES

Interessant finde ich, wie Torres hier auch die psychologische Seite des SM einbindet. Die Deutung der Traumsequenzen mag jeder Leser für sich entscheiden, man kann das Buch als reines Fantasy lesen, man kann darin aber auch eine metaphorische Darstellung des Unterbewusstseins und mehr darin sehen. Die Beziehung zwischen Paloma und Lorenzo bekommt dadurch eine neue Bedeutung, und Palmonas Versuch, ihn für sich zu gewinnen, kann gesehen werden als ... nein, das verrate ich nicht, macht Euch Eure eigenen Gedanken ;-)

Da das Buch in einem Verlag spielt, plaudert der Autor auch ein wenig aus dem Nähkästchen. Wieviel eine seiner Figuren von ihm selbst beinhaltet, weiß nur er allein und können wir nur mutmaßen. Interessant finde ich jedenfalls, was Torres über sich bzw seine Kollegen und das typische Verhalten gegenüber Verlagen und Lektoren schreibt. Aber lest selbst ...


FAZIT

Ein spannender Roman, der schnell und flüssig gelesen werden kann. Dennoch von einer inhaltlichen Tiefe, die zum Nachdenken anregt und das Buch zu mehr macht als nur einer kurzweiligen Lektüre. Top Empfehlung für alle, die zusätzlich zu den romantischen Worten gerne noch ein paar handfeste Taten haben wollen ;-)

SaschaSalamander 03.06.2013, 08.15 | (0/0) Kommentare | PL

Porterville 07 - Götterdämmerung

GÖTTERDÄMMERUNG - welch ein schicksalsträchtiger Name, das ist ganz schön hoch gegriffen. Dachte ich. Doch Hendrik Buchna erweist sich als würdig und hat mit Folge 7 eine Fortsetzung geschaffen, die diesen Titel verdient hat. Hendrik Buchna hat mit >Folge 18< den DARKSIDE PARK damals abgeschlossen. Es wurde viel geklärt, aber eine Menge Fragen blieben offen. Hier nun wird die Brücke geschlagen zwischen der Folge 18 des DSP und den Ereignissen in PORTERVILLE.

Diese Folge setzt nahtlos an, wo Folge 18 DSP abgeschlossen hat. Der Leser erfährt nun, was geschehen war und wie es weiterging. Und endlich, endlich wurden sehr viele Fragen beantwortet. Zum Teil Fragen, die uns Leser von Beginn an drückten (etwa die Frage nach dem "Draußen" oder warum in Porterville so vieles anders ist als im DSP). Und zu einem noch größeren Teil Fragen, die man sich hätte stellen müssen, wenn man nicht das angenommen hätte, was einem als scheinbar einfache Lösung so einfach präsentiert wurde bisher (leider müsste ich spoilern. Es zerreißt mich, das nicht schreiben zu dürfen, aber es wäre einfach zuviel). Und keine Sorge, es bleiben noch genügend Fragen offen für viele weitere Folgen ;-)

Die anderen Episoden stehen weitgehend für sich. Natürlich gehören sie zusammen, versteht man sie nur im kompletten Zusammenhang, doch sie sind weitgehend Einzelwerke. GÖTTERDÄMMERUNG dagegen hängt als Bindeglied so eng sowohl mit dem DARKSIDE PARK als auch PORTERVILLE zusammen, dass die Lektüre sich wirklich erst lohnt, wenn man alle anderen bisherigen Teile kennt. Sehr viele Puzzlestücke werden nun an ihren rechten Platz gerückt, und ohne Kenntnis der bisherigen Puzzlestücke versteht man aufgrund der vielen Namen, Zusammenhänge und Ereignisse absolut nicht, was da eigentlich erzählt wird.

Ich habe nach der Lektüre erst einmal einige alten Folgen auf dem Reader geöffnet, um mich einiger Namen und Zusammenhänge zu vergewissern, habe hier und da den Prolog anderer Folgen nochmal Revue passieren lassen, ein paar Dinge recherchiert, denn an alles kann man sich nach 18 Folgen DSP und bisher 6 Folgen PV gar nicht mehr erinnern. Die aktuelle Folge ist eine gute Gelegenheit, alles Bisherige Revue passieren zu lassen :-)

Stellenweise las ich mit offenem Mund, was Hendrik Buchna nach und nach enthüllte. DSP war genial, und Porterville ein würdiger Nachfolger. Doch mit diesem Bindeglied ergeben sich völlig neue Zusammenhänge und zeigt sich das nahezu epische Ausmaß, das hier nun erschaffen wurde, WOW! GÖTTERDÄMMERUNG - ein Titel, den sich diese Folge mehr als verdient hat!

SaschaSalamander 31.05.2013, 08.53 | (0/0) Kommentare | PL

Porterville 06 - Vor den Toren

porterville06_toren_1.jpgErgänzung: geschrieben, während ich längere Zeit zwangszweise offline war. Veröffentlicht, nachdem ich bereits die nächste Folge gelesen habe. Aber ich kann nicht alles, was ich in der Zwischenzeit geschrieben habe. Daher damals die Vorfreude auf etwas, das jetzt heute aber bereits da ist ;-)

******************

Langerwartet, es scheint eine Ewigkeit her, dass der letzte Band der Reihe PORTERVILLE erschien. Diesmal durften wir uns wieder auf einen Titel von Simon X Rost freuen, und zwar die Fortsetzung des dritten Bandes >NACH DEM STURM<.

Zu Simon X Rost und zum Konzept der Reihe Porterville selbst muss ich nichts mehr erzählen, das habe ich ja bereits ausführlich gemacht. Daher hier nur zum Inhalt und dazu, wie ich diesen Teil wahrgenommen habe:

Wie man aus NACH DEM STURM bereits weiß, ist Jefferson Prey nicht zufrieden mit Satos Führung. Er hat das Angebot, welches dieser ihm gemacht hatte, angenommen und versucht nun, das System von innen heraus zu zerstören. Doch wie es endet, haben wir bereits im ersten Teil >VON DRAUßEN< erfahren.

Und das ist es, was diese Folge so tragisch macht: sie ist spannend geschrieben, man hängt dem Erzähler an den Lippen (bzw mit den Augen auf dem Bildschirm), kann sich nicht lösen, und immer mehr verkrampft man, begleitet den Protagonisten ins Verderben und hegt die irrationale Hoffnung, es könne sich ja doch zum Guten wenden. Wenn man dazu neigt, sich sehr in das Gelesene hineinzuversetzen, dann kann einem hier regelrecht übel werden, denn die Anspannung und auch das Geschehen (niemals geschildert, sondern stets angedeutet und somit reines Kopfkino, darin sind alle Autoren der Reihe Meister) sind nichts für Zartbesaitete. Die Verzweiflung und Ohnmacht Jeffersons überträgt sich auf den Leser, dass es kaum auszuhalten ist. Und obwohl wir sosehr mit ihm mitfiebern - wissen wir, wie es enden wird und können es nicht verhindern. Eine regelrechte nervliche Zerreißprobe für den Leser!

Von Simon X Rost stammt auch die Folge >DIE AUGEN DER NACHT< der Reihe DarkSide Park. Die Szene mit dem Wagenheber blieb mir bis heute im Gedächtnis, und noch immer schüttelt es mich, wenn ich daran denke. Uargh, allein der Gedanke an diese Szene ließ mich stets zusammenzucken, während ich VOR DEN TOREN las, weil ich befürchtete, erneut eine solch grausig-gute Szene lesen zu müssen ...

Schade, dass die einzelnen Bücher so kurz und die Abstände dazwischen so gefühlt lang sind. Aber Qualität schreibt sich eben nicht von selbst, und so kann man auch die Leser länger am Ball halten und neue weitere Fans gewinnen. Trotzdem - ich willwillwill sofort die nächste Folge! ;-)

SaschaSalamander 28.05.2013, 08.44 | (0/0) Kommentare | PL

Milliarden-Mike

wappler_mike_1_1.jpgAUTOREN

Mike Wappler ist inzwischen 57. Er ist Betrüger und Hochstapler, und kein kleiner: rund 20 Jahre seines Lebens hat er hinter Gittern verbracht, unter anderem in der berühmten JVA Fuhlsbüttel (Santa Fu). Angedacht war ursprünglich eine Sicherheitsverwahrung, doch kurz zuvor entzog er sich durch Flucht, gerade während der Diskussionen um Neuregelung der SV. Er kann zwar nicht lesen oder schreiben, doch bereits als Kind bekam er Einblick in das Milieu, lernte andere Menschen mit Worten und Lügen (die er selbst als "Geschichtenerzählen" bezeichnet) zu betrügen (er würde sagen "Maß nehmen").

Der Journalist Tim Gutke hat mit ihm nun das Buch MILLIARDEN-MIKE veröffentlicht, in dem er seine Geschichte erzählt. Und es haben sich wohl zwei gefunden, die prima zusammenarbeiten: hier hat man das Gefühl, dass der Journalist die Worte des Betrügers gekonnt umgesetzt hat, sie perfekt in Szene setzte (denn was nützt die spannendste Geschichte, wenn der Schreiber sie nicht umzusetzen vermag). Der Schreibstil Gutkes und die Erzählungen Wapplers - eine kongeniale Mischung, die den Leser anspricht und sofort wirkt.


AUFBAU

Das Buch beginnt mit der Beschreibung von Wapplers Flucht während seines Freigangs. Danach wird seine Geschichte chronologisch von Beginn an erzählt, vom kleinen Bub hin zum heutigen Lebemann mit Porsche, Villa, Rolex, Designerklamotten und einem dicken Bündel Banknoten in der Hosentasche. Dazwischen werden immer wieder einzelne Absätze eingeschoben (optisch gut vom restlichen Text abgegrenzt, sodass man sie auch zwischendurch überfliegen kann). Der frühere Familienanwält, seine aktuelle Anwältin, seine Halbschwester, ein damaliger Weggefährte, sogar "Schneekönig" Ronald Blacky Miehling kommen zu Wort, auch werden Auszüge aus Gerichtsakten und Zeugenvernehmungen eingefügt.

Das führt dazu, dass die Geschichte aus mehreren Blickwinkeln betrachtet werden kann. So hat der Leser nicht nur die beschönigte Variante Wapplers, sondern auch die Stimmen anderer Personen. Der Unterschied fühlt sich manchmal an, als würde man mit einem heftigen Knall auf dem Boden landen. Wappler erzählt von seinen tollen Ansichten und seiner Ehre, und plötzlich liest man, wie die Schwester von seiner Kindheit als Zigeuner erzählt, wie er verhöhnt wurde, dass er selbst in der ersten Klasse überfordert war und in der Schule keine Chance bekam. Er erzählt stolz von seiner durchdachten Flucht. Sie erzählt von der Feier, die extra für ihren Sohn organisiert wurde und bei der auf einmal nur noch die Polizeiaktion und die Flucht im Vordergrund standen. Wenn Milliarden-Mike die Reichen wie Robin Hood abzockt, dann mag vermutlich mancher Leser anerkennend nicken, aber wenn er dem Sohn der Schwester den Ehrentag vermiest, das tut weh, da hat man wenig Verständnis.


UMSETZUNG

Das Buch ist mit Ausnahme der Einschübe anderer Personen durchgehend aus der Sicht des Ich-Erzählers Wappler geschrieben. Die Identifikation mit dem Betrüger fällt, da sie in geschickte Worte gekleidet ist und die Handlungen stets nachvollziehbar dargestellt wurden, erstaunlich (beängstigend) leicht. Ja, Wappler weiß sich in Szene zu setzen, und ich konnte mir sein Auftreten sehr gut vorstellen. Und Gutke weiß ihm das entsprechende Forum für seinen Auftritt zu bieten.

So betont Milliarden-Mike immer wieder seine Ehre. Er habe niemals jemanden Maß genommen, der es nicht verdient hätte. Wer gierig ist, der ist selbst schuld, und einen Milliardär kümmern ein paar Millionen nicht. Einmal nur habe er eine arme Frau um 3000 Euro erleichtert, aber er habe sich sosehr dafür geschämt, dass er sich mit einem Blumenstrauß entschuldigte und ihr statt dessen 4000 Euro zurückgab. Außerdem steht er zu seinen Taten, man muss Verantwortung übernehmen, das hat ihn bereits seine Mutter gelehrt. Mal ehrlich - wem geht bei diesen Worten nicht das Herz auf? Insgesamt ist das Buch sehr emotional geschrieben, offenbart viel über das, was (vorgeblich, wer vermag das zu beurteilen) in Wappler vorgeht.

Über die Gefahren dieses Buches gleich mehr, doch erst einmal das Lob an den Journalisten: es gehört einiges dazu, einen Menschen ins rechte Licht zu rücken, der sogar Sicherungsverwahrung verordnet bekam. Während man als gutbürgerlicher Mensch zu Hause sitzt und sagt "so etwas tut man doch nicht", lässt Gutke den Leser hier statt dessen die Perspektive wechseln. Er zeigt die schillernde Welt des Milieus, die Verlockungen des Reichtums, die dreckige Seite der gierigen Reichen. Er schafft ein Wir-Gefühl mit einem Verbrecher. Beachtliche Leistung und äußerst faszinierend zu lesen.

Es ist gelungen, dem Leser einen Blick hinter die Kulissen zu bieten. Mit Erstaunen liest man, mit welch einfachen Mitteln es möglich ist, ganz ohne Aufwand einen so simplen und doch geschickten Betrug zu organisieren. Es kommt sogar ein wenig Bewunderung auf für den Menschen, der so mühelos solch simplen und doch effektiven Methoden zu entwickeln weiß. In den Zeilen spiegelt sich sehr viel Menschenkenntnis und Gerissenheit, die in diesem Ausmaß absolut beachtlich ist. Und wer kritisch liest, der wird sehr schnell erkennen, weshalb Wappler kein kleiner Betrüger ist, sondern warum man ihm ursprünglich eine Sicherheitsverwahrung andachte.


SCHWIERIGKEIT

Es ist die Aufgabe des Journalisten, aus Sicht Wapplers zu schreiben, und das ist ihm gelungen. Allerdings führt das dazu, dass das Buch sehr kritisch gelesen werden muss. Es verlangt dem Leser eine gewisse Fähigkeit ab, zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden, sich nicht um den Finger wickeln zu lassen.

Es ist enorm, wieviel kognitive Verzerrung in diesem Buch aufgezeigt wird, präsentiert im Brustton der Überzeugung. Bagatellisierung, Schuldverschiebung, Generalisierung, logisch erscheinende Rechtfertigung und weitere. Konsequenzen werden in Kauf genommen oder falsch eingeschätzt.

Mit dem Opfer, welches zuletzt genannt wird, empfindet der Leser kaum Mitleid. Im Gegenteil eher Schadenfreude, und das Gesetz gibt sogar Recht, indem unter anderem im Urteil zu lesen ist: "Zugunsten des Angeklagten hat die Kammer außerdem berücksichtigt, dass dem Angeklagten seine Taten durch die Leichtgläubigkeit seiner Opfer, insbesondere die des Geschädigten Hubert, leicht gemacht wurden". Und ich gebe zu, während des Lesens habe ich oft mit dem Kopf geschüttelt und konnte nicht glauben, was ich da las (jedoch durch Auszüge aus der Zeugenvernehmung und dem Gerichtsurteil untermauert wurde und somit also tatsächlich stattgefunden zu haben scheint). Dennoch - Unrecht bleibt Unrecht, egal wie gut es verpackt wird.

Gelegentlich scheint es fast, als laute die Moral: "Verbrechen lohnt sich" (brüstet Milliarden-Mike sich gar damit, keinen Cent bisher mit ehrlicher Arbeit verdient zu haben, bezeichnet er das Opfer als Kuh, die gemolken werden will). In den Händen der falschen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen könnte ein Bild entstehen, das absolut schädigend wirkt. Zum Glück aber dürften diese Personen eher selten zu einer Lektüre greifen, sodass ich dieses Buch nicht wirklich als "gefährlich" sehe. Der eigentliche Leser wird wohl klar in der Lage sein, Recht und Unrecht zu entscheiden und die Bagatellisierungen, Schuldverschiebungen etc als solche zu erkennen.

Und eine weitere wichtige Frage: Ist es überhaupt nötig, einem Kriminellen wie ihm eine Platform zu bieten? Nötig - nicht unbedingt. Sollte man es trotzdem tun? Ich finde, warum nicht. Es ist spannend, von anderen Menschen über deren Leben zu erfahren, und man möchte natürlich etwas erfahren, das man selbst nicht kennt aber schon immer mal wissen wollte. In dem Fall befriedigt Herr Wappler also wieder einmal die Gier seiner Opfer, äh, Leser, in diesem Fall die Neu-Gier, die Sensations-Gier. Diesmal aber völlig legal, und es profitieren beide Seiten davon. Warum also nicht? Er kann sich jetzt zumindest nicht mehr brüsten, niemals ehrlich Geld verdient zu haben, denn ein Buch zu veröffentlichen ist mehr als legal ;-)


FAZIT

Ein durch und durch faszinierendes Portrait, das Recht und Unrecht scheinbar auf den Kopf stellt und die Welt aus Sicht eines millionenschweren Hochstaplers zeigt. Spannend zu lesen, voller interessanter Erfahrungen und Einblicke. Allerdings sollte das Buch unbedingt mit kritischem Blick gelesen werden, denn der Journalist versteht ebenso wie der Protagonist, den Leser geschickt auf seine Seite zu ziehen.

SaschaSalamander 27.05.2013, 09.31 | (0/0) Kommentare | PL

Bevor alles verschwindet

INHALT

BEVOR ALLES VERSCHWINDET von Annika Scheffel ist kein klassischer erzählender Roman, dessen Handlung man fortlaufend folgen kann. Insofern ist es auch nicht möglich, eine reguläre Inhaltsangabe zu schreiben. Doch der Inhalt selbst ist folgender: die Bewohner leben in einem kleinen Dorf im Tal, leben ihren Alltag. Eines Tages kommen fremde Männer, sie planen dasDorf zu fluten für einen Staudamm. Die Bewohner haben nun alle ihre Möglichkeiten, hierauf zu reagieren, und der Leser erlebt in einzelnen kleinen Episoden, welche Kräfte sie entwickeln, welchen Zauber das Tal offenbart und wie die Menschen daran wachsen oder zugrundegehen.


AUTORIN

Annika Scheffel ist Jahrgang 1983, studierte Teaterwissenschaften und schreibt Romane und Drehbücher. 2010 erschien ihr Debutroman BEN, den ich noch nicht kenne, der inzwischen aber auf meiner Wunschliste steht :-)


ERZÄHLWEISE, CHARAKTERE

Das Besondere an BEVOR ALLES VERSCHWINDET ist die Erzählweise. Nicht chronologisch und linear, sondern kleine Episoden. Sie erzählen von den Erlebnissen einzelner Bewohner, deren Wahrnehmung der Situation und ihr Umgang damit. Da gibt es die alte Frau, die regelmässig das Kreuz auf dem Kirchturm poliert. Den Bürgermeister Wacho, dessen Beziehung zum Sohn keine förderliche ist. Seinen Sohn David, der einen unsichtbaren Freund erschafft. Mona, die über besondere Kräfte verfügt. Marie, die schon als Kind weiß, dass sie eines Tages eine Heilerin sein wird. Und all die anderen.

Die Tracks sind in Kapitel unterteilt, benannt nach den jeweiligen Protagonisten und der Zeitspanne vor der Flutung. Mit Voranschreiten der Kapitel rückt nun auch das Verhängnis immer näher, unabwindbar. Dass es geschehen wird, erfährt der Leser bereits im ersten Kapitel sowie durch einige Zeitsprünge und Visionen in den ersten Tracks.

Wenngleich die Kapitel auf einzelne Protagonisten abzielen, erfährt man in dieser Zeit auch sehr viel über die anderen Personen. Sie alle haben eng verwobene Schicksale, das Erleben des einen beeinflusst das Geschehen beim anderen. Sie leben gemeinsam im Tal, sie gehören zusammen, und gemeinsam gehen sie nun auf ihr Ende zu.


SYMBOLIK, SPRACHE

Die Sprache, die Worte selbst sind klar und eindeutig, doch die Aussage dahinter ist tief, unergründlich tief, manchmal schon etwas zu tief. Eine eindeutige Interpretation gibt es nicht, und jeder Leser wird seine eigenen Erfahrungen während des Lesens machen müssen / dürfen.

Das Buch hat eine enorme "Dichte", in jedem Satz schwingt eine Bedeutung, die Aussage verbirgt sich oft in einem winzigen Nebensatz. Der einfache Schreibstil und die hohe Dichte sind ein interessanter Kontrast, die eine ganz besondere Faszination auf den Leser ausüben. Annika Scheffel ist es gelungen, Fiktion und Realität auf eine Weise zu mischen, die den Leser verwirrt, begeistert und irritiert. Sie schreibt surreale Dinge so leichtfüßig und glaubwürdig, als wären sie real, und auf diese Weise malt sie ein völlig neues Bild der Realität, die sein könnte, genau hier in diesem kleinen Ort. Wer kann uns das Gegenteil beweisen?

Wenn man im Hörbuch auch nur für zwei oder drei Sätze abschweift, kann es sein, dass man grundlegend wichtige Details überhört und sich plötzlich nicht mehr zurechtfindet. Ich habe zum Vergleich das erste Kapitel als Leseprobe gelesen, nachdem ich die erste CD gehört hatte. Beides hat seinen Reiz (zum Vortrag des Hörbuches gleich ein eigener Abschnitt), doch der geschriebene Text zeigte, dass mir, obwohl ich aufmerksam gelauscht hatte, kleine wichtige Momente für das Verständnis entgangen waren.


SPRECHER, HÖRBUCH

Martin Baltscheit spricht die Lesung, er ist sehr gut gewählt. Seine ruhige, dunkle Stimme ist angenehm zu hören, und er strahlt eine Gelassenheit aus, die zu dem Buch passt, als wäre es nur für ihn und seine Stimme geschrieben worden.

Die Schwierigkeit dabei ist, dass er einzelnen Charakteren keine eigene Stimme, keine eigene Melodie und Persönlichkeit verleiht. Dadurch werden - was ja im Buch möglicherweise auch beabsichtigt ist, das kann ich nicht beurteilen - die Charaktere zwar aufgrund ihrer Handlungen und Personen unterschiedlich, und doch irgendwie gleich. Alle sind verbunden, gehören zusammen. Das erschwert das flüssige Hören, ist jedoch sehr kunstvoll. Was die Dichte des Buches ausmacht, wird durch Martin Baltscheit somit verstärkt: es ist kein Hörbuch für zwischendurch. Es erfordert, dass man sich hinsetzt, es bewusst hört und sich auf nichts anderes konzentriert. Es fordert Aufmerksamkeit. Respekt für den Ort und seine Bewohner, die dem Untergang geweiht sind.


MEIN PERSÖNLICHER EINDRUCK

Ich habe den falschen Moment erwischt. Es ist ein Buch, das man nicht jeden Tag, jede Woche hören kann. Man muss dafür "in Stimmung" sein, um es entsprechend zu würdigen. Ich bin sehr schnell versunken in dieser faszinierenden Welt, doch ich hatte wenig Gelegenheit, länger darin zu verweilen, wurde schnell abgelenkt von anderen Dinge, die im Moment um mich sind. Auch die Ähnlichkeit mancher Namen (Milo und Wacho, Jules und Jula, Marie und Mona etc) ließ mich gelegentlich abschweifen und falsche Schlüsse ziehen, wenn eine der Personen auftauchte.

Das Hörbuch hat mich sehr fasziniert. Umso mehr finde ich es schade, dass die hohe Dichte, die vielen Namen, die geballte Symbolkraft mich momentan so schwer erreichen konnten. Es liegt also auf meinem Bücherstapel, damit ich es bald ein zweites Mal genießen kann, um es dann komplett zu würdigen. Ich freue mich bereits darauf. Momentan fühlte ich mich eher erschlagen von den Bewohnern und all den vielen Symbolen ...

Auch, wenn es etwas komplett anderes ist, musste ich hier und da an Murakami denken: die >WILDE SCHAFSJAGD< habe ich begonnen, fand mich das erste Mal nicht ein, war aber fasziniert. Ein andermal begann ich zu lesen, und dann hatte ich es in zwei Stunden durch, war völlig begeistert, seitdem gehört es zu  meinen Favoriten und er zu meinen liebsten Autoren. Außerdem ähneln sich die Bücher darin, dass auch bei Scheffel die Fiktion so unauffällig nebenbei in die Handlung gewebt wird, als wäre auch sie Teil unser realen Welt. Schafe, die sprechen, Landschaftsgemälde mit Schafen, aus Bildern erwachende Menschen, blaue Füchse auf einem Kinderbild. Und nur unser Verstand trennt die wunderbare Fantasie von der grauen Realität ... warum nicht einfach den Verstand über Bord werfen und sich ganz versenken in diese unglaubliche Welt?


FAZIT

Fiktion? Realität? Symbolträchtig webt die Autorin eine Geschichte, die den Leser verzaubert und die Grenzen zwischen Imagination und Realismus verschwimmen lässt. BEVOR ALLES VERSCHWINDET ist ein Buch, das man nicht immer lesen kann. Doch wenn man gerade die Muse hat, sich auf eine dichte Handlung ohne linearen Verlauf einzulassen, darf man sich dieses zauberhafte Buch auf keinen Fall entgehen lassen.


SaschaSalamander 23.05.2013, 08.53 | (0/0) Kommentare | PL

Was gibts zu sehen

gompertz_Kunst_1.jpgVORAB

Vor einer Rezension über Sachbücher ist der Kontext des Kritikers doch wichtig, um es als Kunde einschätzen zu können. Daher also kurz ein Abriß, warum ich dieses Buch rezensiere: ich liebe Literatur und Musik. Aber Kunst? Die optischen Sachen, das, was ich anfassen und sehen kann und nach ästhetischen oder künsterlischen Gesichtspunkten beurteilen muss? In der Schule habe ich absolut nichts über Kunst gelernt, kenne weder antike noch moderne, unser Schwerpunkt lag auf anderen Fächern. Kunst hat sich mir noch nie wirklich erschlossen, immer wieder bin ich bei meinen Selbststudien gescheitert an Theorie, Fakten, Zahlen und Fachbegriffen. Es erschließt sich mir einfach nicht. Nada. Null. Und das frustriert mich. Ich möchte mehr darüber erfahren. Möchte wissen, worauf ich achten muss, wenn ich ein Bild betrachte. Und ich will wissen, warum so völlig abgefahrene Dinge als Kunst betrachtet werden und warum für ein paar belanglose Gegenstände oder hingeklatschte Farbkleckse und akkurat gezirkelte Linien so viel gezahlt wird. Ich möchte es gerne erfassen und mir die Bilder und Objekte länger betrachten, will darin etwas erkennen. Möchte es verstehen.

Dieses Buch sprach mich in seiner Aufmachung sofort an, es wirkt aufgeschlossen, lebendig und vor allem witzig. "Kunst", das klingt immer so trocken und abgehoben. Vielleicht könnte Will Gompertz es ja tatsächlich schaffen, mir das näherzubringen, was die letzten 35 Jahre komplett an mir vorübergezogen ist ...


ZIEL DES BUCHES

Im Vorwort betont der Autor klar, was ihm wichtig ist: "Mein Ehrgeiz war es, ein faktenreiches und lebendiges Buch zu schreiben; es ist nicht als wissenschaftliches Werk gedacht. Es gibt weder Fußnoten noch lange Quellenverzeichnisse, und manchmal habe ich meiner Fantasie freien Lauf gelassen [...]."

Er spricht also nicht den Kunstkenner an, sondern ganz klar den Laien. Der Laie will keine komplizierte Wissenschaft, dafür aber lebendige Fakten. Was nützen dem Anfänger hunderte Querverweise und Randnotizen, die viel zusehr ablenken und es dann doch wieder verkomplizieren? Wer sich wirklich interessiert, der wird von selbst recherchieren. Dieses Buch soll ein erster Einstieg in die Welt der modernen Kunst sein und dem Interessierten Anregungen bieten, sich aus eigenem Antrieb tiefer mit der Materie zu befassen. Es bietet nur die Basis, diese dafür aber gründlich, mit Humor und jeder Menge Background.


AUFBAU

WAS GIBTS ZU SEHEN beginnt mit einer Übersichtskarte "Moderne Kunst" zum Ausklappen, angelehnt an den Plan der Londoner U-Bahn. Schräge Idee, und sofort beginnt der Leser damit, sich die ganzen Abzweigungen, Überschneidungen, Verknüpfungen anzusehen. Man sucht automatisch nach dem, was man bereits kennt, findet dabei Neues, verweilt in dem Plan, es gibt so viel zu entdecken, das Inhaltsverzeichnis mit dem Streckenplan zu vergleichen, sich über einzelne Linien in dem Plan zu wundern. Damit ist der Einstieg schon sehr gut gelungen: der Leser befasst sich mit der Geschichte der modernen Kunst. Er hat zwar noch nichts gelernt, aber er ist jetzt so richtig neugierig. Idealer Einstieg. Das, was man von sich aus entdecken will, prägt sich einfach besser ein als das, was einem vorgesetzt wird.

Das Buch selbst ist dann gegliedert in einzelne Epochen, jedoch nicht komplett chronologisch, da manches sich überschneidet oder nicht klar einzuordnen ist in den Übergängen. Beim Überfliegen findet man sofort einige Cartoons, die den Text ein wenig auflockern. Außerdem schwarz-weiße Abbildungen von Gemälden, Zeichnungen, Fotografien und Objekten sowie einige Farbseiten. Die Abbildungen sind nicht immer exakt dort zu finden, wo sie im Text erwähnt werden, sodass der Leser oft hin und her blättern muss. Geschickt gemacht, da man auf diese Weise nicht stupide konsumiert und darüber hinwegliest sondern sich die Bilder und den Text dazu gewissermaßen "erarbeiten" muss, sich die Inhalte besser einprägt.


UMSETZUNG

Der Autor gibt sich sehr menschlich, niemals abgehoben und dem Publikum fern. Als Neueinsteiger in Sachen Kunst fühlt man sich schnell überfordert oder ausgeschlossen. Gompertz dagegen nimmt den Leser an die Hand, erzählt Anekdoten, erfindet Geschichten. Er erzählt so von den Künstlern, dass man regelrecht mit ihnen mitfiebert, ob ihre Werke nun anerkannt werden oder auf Ablehnung stoßen, man ärgert sich mit Manet über die blasierten Herren von der Kunstakademie und lacht sich gemeinsam mit Duchamps ins Fäustchen.

Das Buch steckt voller Emotionen, und ich habe mich teilweise mehr hineinversetzt und mich beteiligt gefühlt als in so manchem Roman. Dadurch wird die leblose Farbe an der Wand, werden die gerade angeordneten Ziegelsteine auf dem Boden plötzlich lebendig, sie machen mich betroffen, bringen den Leser zum Lachen, lösen Trauer, Wut, Freude, Fröhlichkeit aus. Und ganz nebenbei werden Fachbegriffe (z.B. Pleinair, Readymade ua) nicht erklärt sondern so eingewoben, dass man sie wie nebenbei liest und verinnerlicht. Man lernt hier, ohne dass man es merkt, und am Ende des Kapitels könnte man den Leser wie einen Schüler abfragen, er wäre selbst erstaunt, was er nun auf einmal alles weiß.


PERSÖNLICHE MEINUNG

Ich fühlte mich als Leser ernst genommen und verstanden. WAS GIBTS ZU SEHEN ist wie ein guter Freund, der sagt "so, ich schleif Dich jetzt einfach mal mit in die Galerie, lass uns Spaß haben". Man ist skeptisch, hat keine Lust, aber dann lässt man sich darauf ein. Und hat tatsächlich Spaß. Der Gegenüber erzählt voller Leidenschaft, die Begeisterung reißt mit. Ich hatte sehr oft das Bedürfnis, sofort nachzuschlagen, weiterzuforschen, mich ans Internet zu setzen und mehr über den Künstler, ein spezielles Bild, eine bestimmte Epoche zu erfahren.

Normalerweise kritzele ich nicht in Büchern herum, dafür habe ich Notizzettel. Es war das erste Mal, dass ich mir wünschte, ich könnte mich dazu aufraffen. SO gerne hätte ich überall etwas unterstrichen, am Rand notiert, mit Leuchtstift hervorgehoben, einzelne Passagen mit Linien verbunden, darin gekritzelt. Das Buch schreit danach, benutzt zu werden, nicht nur stupide im Regal zu stehen. Es verlangt nach Aktion, Mitmachen, Beteiligung, es will mehr als nur gelesen werden.

Auch lese ich Fachbücher normalerweise partiell, suche mir einzelne Kapitel heraus oder lese mal dies und mal das. WAS GIBTS ZU SEHEN ist eines der wenigen Bücher, die ich tatsächlich von vorne bis hinten gelesen habe. Am liebsten hätte ich es nonstop an ein, zwei Tagen verschlungen, so spannend fand ich das Gelesene. Ich musste mich regelrecht zwingen, mir etwas Zeit zwischen den einzelnen Kapiteln zu lassen, um das Gelesene auch zu verarbeiten und erfassen statt einfach nur darüber hinwegzurauschen.

Nie hätte ich gedacht, wieviel Aussage und Statement in einem simplen Pinkelbecken steckt, wie hintersinnig, aufwieglerisch und lustvoll ein scheinbar stinklangweiliges Gemälde sein kann. Gompertz hat mir mit seinem Buch eine völlig neue Perspektive eröffnet, wie ich es keinesfalls erwartet hätte.

Nein, ich habe mir nicht alle Daten, Epochen und deren Vertreter gemerkt. Und noch immer, wenn ich ein Bild sehe, kann ich nicht den Künstler benennen und alles darin sehen, was der Fachmann sieht. Aber ich habe viel dazugelernt. Und ich verstehe nun, warum manches als Kunst gesehen wird und anderes nicht. Ich fühle mich nicht mehr ganz so hilflos und schaffe es nun tatsächlich, Kunst als etwas Lebendiges zu sehen, das mich berührt und etwas in mir auslöst. Das ist weit mehr als ich mir von diesem Buch erhofft hatte.


FAZIT

Das Buch hält mehr, als es sowieso schon verspricht. Es führt Anfänger in die Welt der modernen Kunst ein, schenkt ihnen ebenso unterhaltsame wie auch lehrreiche Stunden. Gompertz macht Lust auf mehr, er fixt den Leser an und bietet einen idealen Einstieg, um dann die Welt der modernen Kunst selbständig zu ergründen.

SaschaSalamander 22.05.2013, 08.37 | (0/0) Kommentare | PL

Elbenthal 02 - Der schwarze Prinz

VORAB

DER SCHWARZE PRINZ ist der zweite Teil der Trilogie ELBENTHAL-SAGA. Also genau das Mittelteil im Sandwich, das oft die Achillesferse der Autoren ist, häufig ein Lückenbüßer, der nicht die Versprechungen des ersten Teils und die Erwartungen des zweiten Teiles erfüllen kann. Ein kritischer Moment, der häufig beweist, ob ein Autor sein Handwerk versteht. Und was hier bewiesen wird: Ivo Pala versteht es meisterlich, den Leser gleichbleibend auf dem Niveau des ersten Bandes zu unterhalten!

Manche Punkte, auf die ich bereits im ersten Band eingegangen bin, möchte ich gar nicht mehr näher ausführen, dies kann man in der Rezension zu >DIE HÜTERIN MIDGARDS< nachlesen. Hier soll es vor allem darum gehen, was mir speziell im zweiten Teil aufgefallen ist.


INHALT

Svenya hat nun also ihr Schicksal als Hüterin von Midgard angenommen und ist bemüht, den Anforderungen ihrer verantwortungsvollen Aufgabe gerecht zu werden. Eine davon ist es, eines der fünf Schwerter des Schicksals ausfindig zu machen. Denn jemand hat es darauf abgesehen, sie alle an sich zu bringen und deren Magie zu wirken. Natürlich gerät Svenya dabei in höchste Gefahr, und sie ahnt nicht, mit welch mächtigem Gegner sie es nun zu tun bekommt ...


CHARAKTERE

Die Charaktere müssen nun nicht mehr vorgestellt werden, man kennt sie aus dem ersten Band. Svenya, Hagen, Alberich, Laurin, Yrr, Liff, Reyja, Raik, Oegis, Lau´Ley, Wargo, Brodhir und all die anderen bekommen hier erneut ihren Auftritt. Der zweite Teil hat oft die Aufgabe, die Charaktere zu vertiefen, die Bindungen untereinander deutlicher zu machen und den Leser noch tiefer in das Geschehen einzuführen. Ivo Pala schafft es, all dies umzusetzen, ohne dass dabei jedoch die Handlung leiden würde. Handlung und Charakterdarstellung sind eins bei ihm, der Leser erhält Einblick in die unterschiedlichsten Aktionen. Doch natürlich sind weiterhin die Motive einzelner Protagonisten unklar, um die Spannung auf die endültige Auflösung aufrecht zu erhalten. Genial, wie der Leser einerseits immer mehr über die Geschichte der Elben und anderen Völker erfährt, ohne dass jedoch die Kernfragen geklärt werden. Immer meint man, die Antwort endlich zu kennen, als sich bereits die nächste Frage eröffnet und man voller Erwartung auf die nächste Seite blättert.


AUFBAU

Die Kapitel sind alle shr kurz und enden wie schon im ersten Band mit einem Cliffhanger. Dadurch entsteht ein Lesefluss, den man kaum unterbrechen möchte. "Nur dieses nächste Kapitel noch, geht ganz schnell", naja, das nächste ist auch nur kurz, und man möchte das Buch gar nicht mehr weglegen, wird stets unter Spannung gehalten.

Der Ablauf des Buches selbst ist ebenfalls flüssig, es gibt keine zu langen Ruhephasen, keine Hänger. Obwohl ich normalerweise ruhigere Bücher bevorzuge, empfinde ich die Action hier jedoch nicht als überzogen und "too much". Die Kampfsequenzen sind so geschrieben, dass man ihnen sehr gut folgen kann. Ich verliere bei anderen Büchern und Filmen häufig den Überblick, wenn zuviel gekämpft wird. Schnell wird es unübersichtlich, und ich überfliege nur noch, bis ich dann das Ergebnis habe (also quasi "wer hat überlebt, wer ist tot, wer ist verletzt"). Ist hier nicht erforderlich, da die Kämpfe sich nicht endlos in die Länge ziehen, stets einen verständlichen Sinn ergeben und vor allem zur Handlung beitragen (was ich bei vielen Verfolgungsjagden und Kämpfen anderer Autoren oft bezweifle, wenn die zigste Explosion zelebriert wird).

Es gelingt Ivo Pala zudem, die Dichte ideal zu halten. Kein Wort zuviel, kein Handlungsfaden unnötig. Dennoch ist es nicht so straff gezogen, dass man sich als Leser überfordert fühlt. Man merkt, er hat eine Geschichte zu erzählen, geht dabei konsequent vor und steuert auf ein Ziel zu. Er hetzt nicht, er bummelt nicht, sein Tempo ist perfekt getimed.


MYTHOLOGIE

Wie schon im ersten Band ist die Mythologie wieder sehr gut recherchiert. Die Darstellung der einzelnen Völker, Legenden, Mythen, die Zusammenhänge untereinander, das wird komplex verwoben und in eine neue Geschichte gepackt. Zwar greift der Autor auf bekannte Inhalte zurück, erschafft daraus jedoch etwas ganz Eigenes, das ich in dieser Form noch nicht gelesen habe.

All die Namen der Schwerter, Elben, Orte, das kann man bei Interesse gerne selbst nachlesen, um die Tragweite der ELBENTHAL-SAGA zu erfassen. Dafür muss man jedoch teilweise recht tief graben, und es dürfte recht lange dauern, sich mit all den Themen auseinanderzusetzen. Als Leser kann man nur erahnen, wieviel Aufwand der Autor in die Geschichte gesteckt hat. Und, einziges Manko des Buches: ich finde, es überfordert den Leser an manchen Stellen: die unzähligen Namen, Epochen, Titel, Zusammenhänge, das würde für ein 10bändiges Epos genügen und ist eigentlich etwas zuviel für eine dreibändige Reihe (ich denke spontan an das Silmarillion von Tolkien, bei dem es ebenso ist. Und wie beim Silmarillion fände ich es hier fast praktisch, wenn der Dreiteiler einen Zusatzband bekäme, der sich mit der Geschichte der Elben befasst, statt es in die reguläre Handlung einzubringen).

Es ist Jugendfantasy, und es lässt sich flüssig lesen. Aber für dieses Genre ist es doch schon sehr anspruchsvoll und verlangt dem Leser einiges ab. Das Buch lässt sich aufgrund des einfachen Stils auch gerne überfliegen und nebenbei lesen. Doch wer die Handlung begreifen möchte, der muss schon sehr genau lesen und bekommt eine Menge nicht immer leicht zu verdauender Happen dargereicht. Dadurch wird die Reihe zu einem All-Ager, der Leseanfänger ebenso wie langjährige Leseratten anspricht. Und ich denke, dass gerade die Neueinsteiger und Lesemuffel durch dieses Buch geweckt werden und Lust auf Mehr bekommen. Und wen ein paar allzu ausführliche Erklärungen stören, der kann die Kapitel ja überblättern ;-)


REIHE

Man sollte, bevor man DER SCHWARZE PRINZ liest, auf jeden Fall DIE HÜTERIN MIDGARDS gelesen haben. Ohne Kenntnis des ersten Bandes ist das Lesen des zweiten nicht möglich, zusehr ist die Handlung aufeinander aufbauend. Allerdings ist die Veröffentlichung des ersten Bandes nun schon einige Zeit her. Im Grunde zu lang, um sich an alles zu erinnern, jedoch zu frisch, um das Buch direkt noch einmal zu lesen. Kein Problem, denn es ist sehr leicht, wieder einzusteigen, selbst wenn man einzelne Elemente schon wieder vergessen hat. Der Autor schafft es, Dinge nebenbei zu eräwhnen, sodass es keine umständlichen Erklärungen gibt, man aber trotzdem ohne Schwierigkeiten den Anschluss findet.


FAZIT

Ein action- und inhaltsreiches Buch, das die Erwartungen nicht nur erfüllt sondern übertrifft. Atemlos folgt der Leser Svenyas Abenteuern, stets auf der Suche nach Antworten, die es aber natürlich erst im dritten Band geben wird ...

Wertung: 9 von 10 unsichtbare Gegner


SaschaSalamander 21.05.2013, 08.36 | (0/0) Kommentare | PL

Einträge ges.: 3848
ø pro Tag: 0,5
Kommentare: 2809
ø pro Eintrag: 0,7
Online seit dem: 21.04.2005
in Tagen: 7135
RSS 2.0 RDF 1.0 Atom 0.3