SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Nenn mich Kai

Klappentext: Irgendwie fühlt sich Andrea in ihrer Haut nicht wohl. Sie steckt im Körper einer Frau, ist in Wahrheit aber ein Mann. Das war schon immer so. Wie werden ihre Freunde reagieren, wenn sie jetzt zu ihrer Transsexualität steht? Und ihre Eltern? Werden sie begreifen, was in ihr vorgeht? Sarah Barczyk lotet aus, wie es ist, als Mann in einem Frauenkörper zu stecken. Da wird ein weites Feld aufgespannt, wenn es nicht mehr heißt: Ich bin ein Mann. Oder: Ich bin eine Frau. Wenn die Dinge komplizierter werden.




FORMAT, AUFMACHUNG

NENN MICH KAI bietet 80 Seiten für 14,99 Euro, das ist nicht gerade billig. Verkauft wird es als "Graphic Novel". Eine Bezeichnung, der ich ihre Berechtigung nicht abstreite, für mich allerdings ist es ein Comic (denn auch Comics können ernsthaft, tiefgründig und anspruchsvoll sein und sind eine ernstzunehmende Literaturgattung für mich). Autorin ist Sarah Barczyk, von der ich bisher noch nichts gelesen haben, über die man >hier< ein wenig erfahren kann.

Der Titel wird verkauft in einem hübschen Softcover mit Klappbroschur. Die vordere Seite auf der Innenklappe ist ein typisch weibliches Badezimmer mit blumigem Deo, BH und weiblichem Kosmetikbeutel. Die hintere Innenseite ziert das gleiche Setting, doch hier finden sich ein Rasierapparat, männliche Unterwäsche und ein männliches Deo. 


ZEICHENSTIL

Das Werk kommt weitgehend ohne Hintergrund aus, nur einige wenige Szenen sind mit Details versehen. Ansonsten ist alles komplett schwarz-weiß, die Konturen sind sehr kräftig. Der Hintergrund ist komplett weiß, gelegentlich hellgrau, nichts lenkt von den Charakteren und ihren Dialogen / Gedanken ab.

In der Regel sieht man nur die Charaktere, liest ihre Worte. Alles ist sehr stark skizziert, die Zeichnungen sind sehr einfach gehalten. Gerade durch diese Einfachheit liegt sehr viel Ausdruck vor allem in den Augen, der Körperhaltung. Dinge wie eine geänderte Frisur, geänderter Kleidungsstil oder angedeutete Mimik (Mundwinkel nach oben, nach unten, Stellung der Augenbrauen) sind dadurch sehr aussagekräftig. 

Durch diesen minimalen Stil kann man auch sehr viel eigene Gedanken und Gefühle in die Charaktere projizieren, fühlt mit ihnen, auch zwischen den Zeilen schwingt sehr viel Subtext mit. Wenn Kai wieder einmal mit großen Augen, erhobenen Augenbrauen den Leser anblickt, wenn er angespannt das Gesicht verzieht, wenn eine Träne aus dem Augenwinkel kullert, dann möchte man ihn in den Arm nehmen und einfach nur gern haben. 

Die Autorin hält sich beim Zeichnen nicht an typische Klischees von großen breiten Männern und kleinen dünnen Frauen. Sie verwendet unterschiedlichste Archetypen. Kai selbst ist mittelgroß und stämmig, seine Freundin deutlich größer aber recht dünn, sein bester Kumpel ist kleiner als er und recht dürr. Ein sehr schöner Querschnitt der Bevölkerung, der sich nicht der Klisches "kleiner schmächtiger Transmann, große dicke Transfrau" bedient sondern sehr realistisch und glaubwürdig ist.


ERZÄHLWEISE

Es gibt keine Kapitel, keine Zeitangaben. Der Comic ist ein typischer Slice-of-Life, der Leser begleitet Kai durch einen wichtigen Abschnitt seines Lebens. Zwischendurch gibt es immer wieder Zeitsprünge. Wie lang diese genau sind, geht aus dem Comic nicht hervor (aufgrund des Therapieverlaufes tippe ich auf etwa eineinhalb Jahre), es ist auch egal, denn es geht nicht um den zeitlichen Ablauf sondern um Kais Entwicklung. Einen Zeitsprung erkennt man zB an einem etwas geänderten Gesicht, an einer neuen Frisur. 

Die Erzählung verläuft sehr ruhig, unaufgeregt. Die Autorin lässt sich auch Zeit, alles auf den Leser wirken zu lassen. So gibt es etwa eine ganze Seite, auf der Kai durch die Straßen läuft, es regnet, alles ist grau, er passiert eine Litfaßsäule mit Werbung, kein Dialog, kein Text, nur die Stimmung wird eingefangen. Auch dem Trubel auf der Games-Con wird eine ganze eigene Seite gewidmet. Doch dadurch schindet sie keine Zeit, verschenkt sie keinen wertvollen Platz, sondern dadurch baut sie eine erstaunliche Nähe zu der Figur des Kai auf. Seine Gefühle, das was ihn bewegt, sein Alltag, das wird dem Leser sehr realitätsnah geschildert. 

"Show don´t tell" praktiziert sie hier in Meisterleistung, der Leser bekommt sehr viel gezeigt, es muss sogut wie nichts erklärt werden, auch ohne Worte werden sehr viele Inhalte übertragen. Sie sind so deutlich gezeichnet, dass man gar nicht groß abtauchen muss, selbst beim Überfliegen erkennt man bereits, wieviel Aussage in den einzelnen Panels steckt. NENN MICH KAI ist unglaublich intensiv, und ich war erstaunt, wie viel Inhalt auf 80 Seiten mit so wenig Text transportiert wurde.


THEMEN

Der Weg des Protagonisten von Andrea zu Kai ist glaubwürdig und sehr realistisch geschildert. Man spürt, dass Sarah Barczyk sich sehr intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Was mir besonders gefällt: es geht nicht um Geschlechtsteile, Operationen und Machogehabe. Sondern es geht um die Sorgen und Ängste, denen Kai sich stellen muss, es geht um die alltäglichen Ärgernisse, um das soziale Umfeld, um die kleinen Erfolge und die großen Freuden. 

Auch, wenn die Geschichte zeitlich nicht festgelegt ist, ist sie sehr schön chronologisch erzählt. Begonnen bei der Vermännlichung im Badezimmer (Bart schminken, Abbinden) über das erste tränenreiche Outing beim Kumpel (omG, da muss man als Leser gleich mitweinen, die Angst und dann die Erleichterung sind regelrecht körperlich spürbar beim Lesen). Aber nicht nur Erfolge hat Kai zu verzeichnen, so geht das Outing bei den Eltern ziemlich schief, und sie wollen es auch nicht so recht wahrhaben, eine lesbische Tochter wäre ihnen lieber als der Gedanke, dass die "Tochter" eigentlich ein Mann ist. Und dann ist da noch die Freundin, von der Kai eigentlich gerne mehr möchte, die aber noch nicht so recht weiß, wie sie mit seiner neuen Identität klarkommen soll. 

Der erste Kauf von Binder und Packer, die laufenden Sitzungen beim Therapeuten, das Hinauszögern der heißersehnten Hormontherapie, das erste Mal in der Männerumkleide, Klamottenkauf in der Herrenabteilung, die Vorfreude sich irgendwann zu rasieren, der Männerhaarschnitt. Im Alltag als Frau gelesen werden, eines Tages plötzlich ein erfolgreiches Passing (als Mann gelesen werden). Abwertende Sprüche durch Männer, welche Kai als Frau wahrnehmen und diskriminieren. Erfolgserlebnisse, als Frauen ihn wie einen tollen Kerl behandeln. Auch sein Satz "Dick, trans und dann noch Sport vor anderen - naja, am Ende wird es sich hoffentlich auszahlen" spiegelt unglaublich gut, was in Kai vorgeht und mit welchen alltäglichen Problemen er zu kämpfen hat.

Schön finde ich, dass auch ganz typische Sprüche zitiert werden, ohne allerdings als Klischee zu landen. So fragt sein Kumpel ihn etwa direkt "stehst Du auf Männer oder Frauen", ARGH, als ob das eine Rolle spielt, aber das ist es eben, was vielen Menschen als erstes durch den Kopf geht bei einem Outing. Toll finde ich Kais Reaktion, ziemlich lässig und humorvoll, die Antwort bleibt offen. Auch sonst hat Kai gute Reaktionen parat. 


SONST NOCH

Ich finde die Umsetzung sehr, sehr gelungen. Wie bereits gesagt ist die Geschichte höchst emotional erzählt. Dabei wird es allerdings niemals rührselig oder kitschig, hat eine angenehme Mischung aus Humor und Ernsthaftigkeit. Lustige, traurige, verletzende und motivierende Momente wechseln sich ab, Kai erlebt Höhen und Tiefen.

Für Betroffene ist die Handlung glaubwürdig dargestellt, man kann sich gut darin wiederfinden. Wer das selbst erlebt hat, wird in jedem Panel unglaublich viel eigene Gefühle und Gedanken ergänzen, die Szene auf diese Weise mit eigenem Leben füllen und sich an viele Momente seiner Transition erinnert fühlen. Außenstehende können den Weg sehr gut nachvollziehen, werden auf viele Alltagsprobleme hingewiesen, können sich gut hineinversetzen und bekommen auf diese Weise einen guten Blick für das Thema. Ich halte das Werk für sehr geeignet, um es auch Angehörigen in die Hand zu drücken, nicht als Informationsmaterial, aber als Möglichkeit zum Gesprächseinstieg. 


FAZIT

NENN MICH KAI ist ein sehr intensives Werk, das ich Betroffenen, Angehörigen und Interssierten auf jeden Fall sehr ans Herz lege. Unter all den Jugendromanen, Biographien, Filmen und Sachbüchern ist dieser Comic eine ungewöhnliche und hervorzuhebende Bereicherung. Danke, Sarah! 

SaschaSalamander 15.07.2016, 09.04

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