SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Marco Kirchner - Geisterwege

Wie ich >hier< in einem früheren Beitrag angekündigt habe, möchte ich Euch gerne >Marco Kirchner< und seine Führungen >Geisterwege< vorstellen. Inzwischen habe ich nahezu alle seiner Führungen miterlebt, doch hin und wieder kommt etwas Neues, und ich freue mich immer wieder, wenn er ein Special Event einlegt oder eine neue Tour in sein Programm aufnimmt. Seine Führungen machen regelrecht süchtig nach mehr ...


DAS BESONDERE

Wenn ich erklären müsste, was mich so fasziniert an seinen Führungen, wenn man mich fragt, warum gerade seine Geschichten etwas Besonderes sind - ich wüsste nicht, wo ich anfangen soll! Die Atmosphäre, die er während der Führung verbreitet. Sein Auftreten, sein Charisma. Die Zusammenstellung der jeweiligen Geschichten, vorgetragen an den jeweils passenden Orten. Seine profunde Kenntnis nicht nur über die Geschichten sondern auch entsprechende Zusammenhänge und Hintergründe. Er ist keiner, der einfach nur einen Vortrag auswendig lernt, sondern er präsentiert, was er sich erarbeitet hat, was er recherchiert hat. Von ihm hört man Geschichten, die man nicht an jeder Straßenecke bekommt. Sondern von ihm bekommt man Inhalte geboten, die wirklich unglaublich klingen und ein völlig neues Licht auf meine geliebte Stadt werfen. Aber ich bin schon mittendrin, werde mich nun bemühen, meinen Beitrag ein wenig zu sortieren ;-)


SEIN AUFTRETEN

Marco Kirchner präsentiert seine Führungen als >Wandererzähler<. Lange Haare, ein spitzer Bart, dazu die passende mittelalterliche Gewandung: ein Schlapphut mit langer Feder, die restliche Tracht passend dem Thema der Führung und dem Wetter entsprechend. Zum Beispiel Lederhose, Leggins wie ein Gaukler, ein Kapuzenumhang gehalten von einer markanten Schnalle, ein breiter Gürtel mit Trinkhorn, Geldbörse, Hasenpfote, Lederschuhe, Leinenhemden, Accessoires aus Leder, Metall und gewebten Stoffen. Gut, die Brille gehört nicht dazu, aber auf die kann man nicht verzichten. Nur selten entdeckt man ansonsten etwas Anachronistisches an ihm, dafür muss man schon sehr genau hinsehen ;-)

Ich habe schon andere verkleidete Künstler gesehen. Klar, in Nürnberg ist das Mittelalter präsent, und oft versuchen die Führungen dies optisch darzustellen. Aber man erkennt, dass es Verkleidung ist. Die Führer beherrschen nicht die alte Sprache, rutschen immer wieder in moderne Worte. Die Kleidung ist zu sauber und perfekt, als dass sie echt wirken könnte. Es ist ein Schauspiel. Aber Kirchner scheint seine Führungen zu leben. Wenn man mit ihm durch die Stadt wandert, dann fühlt man sich zurückversetzt in das alte Nürnberg, sei es in das Jahr 1050, in welchem Nürnberg erstmalig erwähnt wurde oder die späteren Jahre des Mittelalters. Der Allgemeinheit bekannte und auch weniger bekannte Figuren: der Henker >Meister Franz<, der Bader >Hans Folz<, die >Patrizierfamilie Tucher<, >Albrecht Dürer< und unzählige andere Familien, Maler, Erfinder, Dichter, Kirchenmänner, Ritter, Raubritter, Könige, Kriegsherren, sie werden durch ihn lebendig, so als hätte er sie persönlich gekannt und schlüpfe nun in deren Rollen.

Mit Wortwitz und angenehmer Stimme trägt er seine Erzählungen vor, die Sprache angemessen den Geschichten, das Vokabular ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, er spricht frei und ist flexibel, reagiert spontan auf Fragen, bezieht das Publikum in seine Geschichten ein, geht auf die Leute zu. Stört ein Auto (was in der Altstadt selten vorkommt und daher erwähnenswert ist) die Führung, so tritt er beiseite, "lässt die Kutsche passieren", dies wirkt so natürlich und in keinster Weise gestellt, nichts vermag die Atmosphäre zu stören, die er kunstvoll erschafft.


DIE ATMOSPHÄRE

Meisterlich beherrscht er die Kunst des Fabulierens. "Show don´t tell": natürlich muss er Jahreszahlen einbringen, und natürlich nennt er auch Namen, die man danach eventuell wieder vergessen hat. Aber was im Gedächtnis bleibt, das sind die Bilder, die während seiner Vorträge im Kopf entstehen. Er sagt nicht "das Kind wollte in den Wald und Honig kaufen". Sondern er holt aus: Beschreibt, wie das Kind sich etwas in den Kopf gesetzt hat, fragt den Zuschauer, was er sich als Kind in den Kopf gesetzt hatte und ob er dann auch eine Dummheit dafür beging. Und er beschreibt, was für eine besondere Leckerei Honig war und wie traurig das Kind war, als nichts mehr davon im Haus war, und wie es sich auf den Weg in den dunklen Wald machte, um dort den >Zeidler< aufzusuchen. Die Menschen um uns herum verschwinden, die moderne Stadtkulisse verblasst, es entstehen Bilder der alten Stadt, des dunklen Waldes, man schmeckt den Honig auf der Zunge und folgt dem Kind in die Stadt, verläuft sich im Dunkel und findet den Weg nicht mehr zurück. Doch zum Glück steht er da mit seiner Fackel, geleitet uns zurück in die Stadt und führt uns weiter über das holprige Pflaster hin zum nächsten Abenteuer ...

Die Fackel ist im Dunkel sein Begleiter, ich besuche bevorzugt die Führungen in der Jahreszeit, wenn es bereits dunkel ist, wenn man alles um sich herum vergessen kann und sich ganz auf ihn einlässt. Dazu führt er seine Hörer an die entsprechenden Kulissen. Eineinhalb Stunden läuft man mit ihm durch die Gassen, sieht verwinkelte Eckchen, große Plätze, steht vor Kirchenportalen und steigt hinauf auf die Burg. Manchmal baut er kleine "Effekte" ein, trägt kleine Gegenstände zur Untermalung bei sich: am Henkersteg zieht er etwas aus der Tasche, und ich schmunzle stets über die erschrockenen Gesten der Anwesenden. Bei einer der Führungen gibt es zusätzlich sogar Schauspieler, welche als schaurige Gestalten ein bisschen Grusel verbreiten und die Gruppen begleiten.

Nein, "Stadtführung" wäre untertrieben. Seine Führungen sind Events, und sie sind mindestens so unterhaltsam wie ein Besuch im Theater oder Kino. Man muss ihn selbst erlebt haben :-)


DIE ZUSAMMENSTELLUNG DER FÜHRUNGEN

Inspiriert von britischen Ghost- und Storywalks rief er 2002 die Nürnberger Ghostwalks ins Leben. Doch die Nachfrage stieg, die Stadt bietet ein Füllhorn bisher unerzählter Geschichten, und so schuf er weitere Themenführungen. Es wäre zuviel, würde ich hier alle einzeln auflisten, deswegen hier der Link zur Übersicht seiner >Geisterwege< sowie ein allgemeiner kurzer Überblick.

Er widmet eine Führung beispielsweise dem berühmten Raubritter >Eppelein von Gailingen< ("sie haben ihn gefangen mit Spießen und mit Stangen" - wer kennt dieses alte Gedicht nicht?). Man erfährt von seinen Schandtaten, seinen Schelmenstreichen, von seiner Ergreifung ("die Nürnberger hängen keinen sie hätten ihn denn") und dem berühmten Sprung über die Stadtmauer, auch von seinem tragischen Tod. Man erfährt von Schelmen, Gauklern und Narretei. So trieb zum Beispiel sogar >Till Eulenspiegel< sein Unwesen im Heilig Geist Spital und stellte sich dar als Wunderheiler mit kurzfristig sogar überragendem Erfolg.

Auch wird es erotisch, denn so kühl der Franke sich gibt, so heiß lodert es unter seiner Oberfläche. Es reiste Raimund von Capua extra aus Venedig heran, um dem Teufelstreiben im Katharinenkloster Einhalt zu gebieten, denn Teufelswerk und Unzucht waren der Heiligen Römischen Kirche ein Dorn im Auge. Eine >romantische Liebesgeschichte< war Anlass zur ersten urkundlichen Erwähnung der Stadt Nuorenberc. Und auch sonst waren die Nürnberger nicht untätig, es war ein reges Treiben in der Stadt. Diese Führung hebt sich von den sonst eher düsteren Touren ein wenig ab, doch auch hier gelingt es ihm meisterlich, das Liebesleben der alten Nürnberger darzustellen. Mit einem frechen Zwinkern im Augenwinkel erzählt er von Nonnen, Priestern, Adligen und gehörnten Ehemännern, stets frivol aber niemals unter der Gürtellinie.

Henker, schaurige Morde, berühmte Richtsprüche, eingekerkerte Persönlichkeiten, grausame Schicksale, Poltergeister und das Wüten der Pest - all das ist seine Spezialität, es scheint die dunklen Gestalten liegen ihm besonders am Herzen. So erfährt man von Kirchner genau, woher der berühmte Dracula seinen Namen hat: Graf >Vlad III Draculea<, Sohn des Drachen, in Nürnberg aufgenommen in den Drachenorden.

Eine eigene Führung widmet er - jedoch in Fürth, nicht in Nürnberg - dem berühmten Erzzauberer und Schwarzkünstler, Wunderheiler, Alchemisten, Magier, Astrologen, Wahrsager >Dr. Faustus<, Vorlage zu Goethes Dr. Faust. Denn dieser wurde der Stadt Nürnberg verwiesen, wie man in einer alten Urkunde des Stadtarchives erfahren kann.


SEIN FACHWISSEN

Normalerweise besuche ich eine Führung, und wenn sie aus ist, dann ist sie eben aus. Bei Kirchner ist das anders: sobald ich zu Hause bin, beginne ich mit der Recherche, suche mir entsprechende Links oder Fachbücher, schlage in meinen alten Sagenbüchern nach, mache mir Notizen und gehe diesen in den folgenden Tagen nach, sei es im Antiquariat oder der Bibliothek. Er erzählt von Ereignissen, die so spannend sind und doch so selten erwähnt werden in anderen Büchern und Stadtführungen, dass ich mich nur wundern kann, wie solch faszinierenden Themen nicht schon längst ausgeschlachtet und vermarktet wurden. Er gräbt tief in den Büchern und holt aus den verstecktesten Winkeln neue Inhalte für seine Touren.

Wie schon erwähnt: er hält keine auswendig gelernten Vorträge, sondern er ist ein Geschichtenerzähler. Er trägt das Wissen in sich, und er kann spontan auf Fragen oder Einwürfe der Gäste reagieren. Einige Geschichten hörte ich mehrfach: bei meinen abendlichen Spaziergängen bin ich ihm schon häufig begegnet, eine Gruppe um sich geschart, und ich lauschte einige Minuten. Und einige wenige Geschichten werden auch in verschiedenen Führungen erwähnt, da sie von solcher Bedeutung für die Stadt sind, und immer erzählt er sie zwar in ähnlichem Stil aber doch andersartigem Wortlaut.

Auf dem Fußweg von einer Station zur nächsten oder nach der Führung steht er auch gerne bereit für Fragen. Und ich gebe zu, ich kann es nicht lassen, die Geschichten sind so spannend, mir schwirren tausende Fragen im Kopf, und um zu Hause besser recherchieren zu können, muss ich ihm einige davon immer sofort stellen. Geduldig und ausführlich beantwortete er sie alle. Und zeigt dabei, wie tief verwurzelt seine Faszination für die alten Geschichten ist. Er kennt nicht nur die alten Legenden, und dies nicht nur aus Nürnberg, sondern er zieht Verknüpfungen zu anderen Städten, geht auch auf Spezialthemen ein, ob nun Mystik, Geschichte, spezielle Orte, Literatur, Persönlichkeiten und Jahreszahlen. Kennt die Hintergründe zu den Anekdoten und Legenden, kann entsprechende Quellen benennen. Sogar bei seiner Kleidung legt er großen Wert auf Authenzität, kann etwa die Bedeutung eines Schmuckstückes erklären oder legt sich spezielles Schuhwerk für bestimmte Führungen zu.

Über seine Leidenschaft, seine Ausbildung und wie er zu dieser ungewöhnlichen Umsetzung der Geisterwege kam, kann man >hier< genauer nachlesen.


ZUM ABSCHLUSS

Zum Abschluss für alle Touristen kann ich nur sagen: es gibt viele Stadtführungen. Aber, seid ehrlich - interessieren Euch Jahreszahlen und langweilige Gebäude, die man sowieso wieder vergisst? Oder wollt Ihr, dass die Geschichte vor Euren Augen lebendig wird? Werft einen Blick in sein Programm und sucht Euch die beste Führung für Euren Besuch aus, es ist ein Erlebnis!

Und für alle "Nermbercher": Du kennst die Führungen noch nicht? Na, dann wird es Zeit, Du wirst Deine Stadt erleben, wie Du sie noch nie gesehen hast! Und falls Du schon glaubst, alle Führungen zu kennen: bist Du Dir da wirklich sicher? So hat er zum Beispiel dieses Jahr die >Hexenjäger und Pöppelträger< neu in sein Programm genommen. Ebenfalls neu und in Nürnberg einzigartig ist die Reihe >"Wem die Stunde schlägt"<, wo er anlässlich der Todestage historischer Persönlichkeiten im Rahmen seiner Führungen dieser Personen gedenkt und zusätzlich zum regulären Programm Spannendes aus deren Leben und über deren Tod erzählt. Und so wissensdurstig und begeistert er ist, bin ich sicher, dass es im Laufe der kommenden Jahre noch viele weitere Programme geben wird ;-)


TIPP

Und ein kleiner Tipp: es sind enorm viele Links diesmal in meinem Beitrag. Bitte nicht ignorieren, zumindest mal drüberfahren. Denn einige davon führen zu Youtube, wo man ihn live erleben kann, sodass Ihr einen Eindruck bekommt, was Euch bei der Führung erwartet ...

SaschaSalamander 11.04.2012, 08.15

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Kommentare zu diesem Beitrag

2. von Anita Aschenbrenner

Hallo, hab gerade deine schönen Ergüsse über Marco Kirchners Stadtführungen gelesen. Ich hatte mir bisher noch nichts dazu in Nürnberg angeschaut - das wird sich jetzt ganz schnell ändern.
Doch eines möchte ich nicht unerwähnt lassen: Immer wieder kam es mir vor, als würdest du von Peter Hartnagel sprechen "dem" Erlanger Nachtwächter sprechen (Hier klicken) - spielt zusammen mit seiner Frau Christine u.a. auch noch andere Stücke in Erlangen und Bamberg. AUf jede Frage kommt eine Antwort, die zeigt,dass er einen viel tieferen KOntakt zur Materie hat, als nur umfassendes, weit über die
Führungsinhalte hinausgehendes,angelesenes Wissen, sondern dass er irgendwie eins ist mit seiner Figur, die er gerade spielt, ob Nachtwächter oder Henker oder Räuber. Würde mich freuen, über ihn und seine Frau auch mal so eine treffend herzliche Beschreibung zu lesen.
Und jetzt freu ich mich auf morgen abend - auf meine erste Marco Kirchner-Führung. LIebe grüße ANita 9.9.13

vom 12.09.2013, 13.35
Antwort von SaschaSalamander:

Ich hoffe, der Vortrag hat Dir gefallen? :-)

Den Nachtwächter in Erlangen kenne ich nicht, und vorerst ist auch nichts geplant. Aber sollte es sich irgendwann einmal ergeben, werde ich sicher etwas dazu schreiben ;-)
1. von Daniel

Eine wirklich tolle Zusammenfassung von Marco Kirchners Stadtführungen. Deine Begeisterung für ihn und seine Art und Weise Nürnberger Geschichte zu präsentieren teilen wir auch. Deshalb haben wir mit ihm ein Gespräch geführt und nun als Podcast veröffentlicht: Hier klicken Vielleicht magst du dir die Sendung ja anhören.

vom 02.08.2013, 06.37
Antwort von SaschaSalamander:

danke für den Hinweis :-)

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