SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Knabenzeit

VORAB

Ich weiß nicht, ob ich bei Andreas Burnier / Catharina Irma Dessaur von "ihr" oder "ihm" reden soll, da mir aufgrund der gefundenen Informationen nun nicht erkennen kann, was angebrachter und respektvoller ist. Ich lese im Web immer wieder von "sie", auch auf offiziellen Seiten, auch in der Autorenbeschreibung des Verlags, daher übernehme ich das, hoffend dass es korrekt ist.

Der Roman KNABENZEIT erschien 1969 unter dem Titel HET JONGENSUUR. Ich habe die Ausgabe gelesen, welche 2016 im Verlag >Wagenbach< veröffentlicht wurde. Zwar wird die (fiktive) Geschichte des Mädchens Simone erzählt, jedoch ist es ein autobiographischer Roman, in dem die verschiedenen Stationen der Flucht der Autorin dargestellt werden.


DESSAUR / BURNIER

>Catharina Irma Dessaur< wurde 1931 in Den Haag geboren und ist eine niederländische Schriftstellerin. Sie begann Medizin und Philosophie zu studieren, heiratete einen Verleger, bekam zwei Kinder und setzte ihr Studium nach der Scheidung fort, promovierte in Kriminologie und veröffentlichte unter dem Pseudonym Andreas Burnier. Sie kämpfte als Pionierin der feministischen Bewegung an vorderster Front für die Rechte von Homo- und Transsexuellen, lebte seit 1983 mit einer Publizistin / Bibliothekarin zusammen . Außerdem setzte sie sich vor allem für das Judentum ein, was sich in ihren Werken und ihrem Wirken spiegelt. 2002 verstarb sie im Alter von 71 Jahren.


INHALT

Klappentext: Der autobiographische Roman der in den Niederlanden weithin bekannten Autorin beginnt an einem Frühlingstag am Kriegsende. Die 14jährige Simone möchte die neue Freiheit genießen und nichts mehr verbergen. Rückblickend erzählt sie vom langsamen Erwachsenwerden im Verborgenen: Wie sie als Kind jüdischer elter bei verschiedenen Familien Unterschlupf fand; von der ständigen Angst, entdeckt zu werden, die ihr ein ebenso treuer Begleiter war wie der sehnliche Wunsch ein Junge zu sein. 

Ein Spoiler ist quasi nicht möglich, da es keine "Handlung" im typischen Sinne gibt, sondern das Büchlein eine Art rückblickendes Tagebuch über verschiedene Stationen ihres Lebens ist. Daher werde ich hier und da ein paar Inhalte benennen. 


SPRACHE, STIL, AUFBAU

Die Sprache ist einerseits recht schlicht, dem Duktus eines Kindes / eines Jugendlichen angemessen. Manche Fachbegriffe sind auch absichtlich falsch geschrieben, so wie dies ein 9jähriges Kind zum Beispiel tun würde (ein Stilmittel, das hier nur selten angewendet wird, dafür umso mehr ins Gewicht fällt). Auf der anderen Seite findet sich doch einiges an sehr intensiv reflektierten Gedanken sowie auch politischen und religiösen Bezügen. Da das Buch rückblickend von einer erwachsenen Person geschrieben wurde, ist dieser Kontrast sehr interessant zu lesen und nicht nur nachvollziehbar sondern sinnvoll und spannend. Man kann sich sehr gut in das Kind hineinversetzen, gleichzeitig aber auch als Erwachsener den Subtext zwischen den Zeilen erkennen. Auch wird sehr gut deutlich, wie frühreif Simone in vielen Punkten ist. Im Krieg konnte man nicht auf alles Rücksicht nehmen, und das Kind musste schon sehr früh lernen, die Erwachsenen zu beobachten und sich alleine zurechtzufinden. 

Die Ereignisse sind rückwärts erzählt. Es beginnt bei Kriegsende 1945, als 14jährige Simone die deutschen Soldaten verhöhnt, und geht immer weiter zurück, bis 1940 die jüdischen Kinder nicht mehr gemeinsam mit den anderen Schülern unterrichtet werden durften. Das Buch endet mit dem Vorwort und dann einer kurzen Schilderung der Autorin über ihre eigenen Erfahrungen im Krieg (die ziemlich deckungsgleich zu denen der fiktiven Simone sind). 


KAPITEL

1945, Lichtstadt, Kriegsende, Simone ist endlich wieder mit den Eltern vereint. Gemeinsam sucht die Familie nach Überlebenden des Holocaust. Während gerade Knabenzeit im Schwimmbad ist, schummelt sie sich dazwischen und ist zutiefst verletzt, als sie des Bades verwiesen wird. Auch das Einsetzen ihrer ersten Menstruation führt dazu, dass sie umso mehr versucht, von anderen als männlich wahrgenommen zu werden. Der Leser erfährt sehr viel darüber, welche Nachteile sie als Frau in der Gesellschaft empfindet, wie sie sich in ihrer Berufswahl eingeschränkt fühlt, warum sie sich den Frauen so fremd und den Jungen so verbunden fühlt. 

1944, Sanddorf, sie lebt bei Onkel Viktor und trifft im Wald einen Fallschirmjäger. Ihr wird immer wieder vor Augen gehalten, wie Frauen und auch Juden beide diskriminiert werden und mit welch unterschiedlichen Maßstäben Menschen behandelt und beurteilt werden. 

1943, Fenndorf, ein Klempner und seine Frau gewähren ihr Unterschlupf. Prägend in dieser Zeit ist für Simone vor allem der Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft. Familien werden danach beurteilt, ob sie dem Katholizismus oder der calvinistischen Gemeinde angehören, sogar spielende Kinder werden von den Eltern in diese Gruppen eingeteilt. Simones Wissensdurst und ihr Bedürfnis nach Bildung werden immer wieder eingeschränkt, sie fühlt sich unterfordert. In der Schule muss sie fliehen, als der Lehrer bei einer angekündigten Kontrolle um ihre Sicherheit führchtet. Innerlich zerrissen, ergeht sie sich immer wieder in ihre Tagträume. 

1942, Mauerstadt, sie lebt bei Tante Emma und verbringt viel Zeit mit ihrem imaginären Freund. Auch hier zeigt sich der Drang nach Bildung und Wissen, doch auch hier musste sie fliehen und sich vor den Soldaten verstecken, Bildung ist aus Sicht der Erwachsenen erst einmal nachrangig der Sicherheit. Obwohl sie erst 11 ist, hat sie bereits eine Freundin, für die sie mehr empfindet, doch bereits hier zeigt sich sehr deutlich, dass Simones Wünsche und Hoffnungen andere sind als die der Freundin. Das Thema Sexualität ist zwar im gesamten Buch präsent, bekommt aber auf verschiedene Weise in diesem Kapitel einen sehr hohen Stellenwert.

1941, Lichterstadt, noch ist Simone 10 Jahre alt, aber sie liest bereits Schiller, Goethe, Karl Marx, Nietzsche. Nicht alles versteht sie, doch Bücher sind ihre Flucht, und sie erfüllen ihren Wissensdrang. Als jüdisches Kind muss sie sich verstecken, und die Jungs erkennen sie nicht als einen der ihren an, immer wieder stößt das Mädchen an seine Grenzen.

1940, Wasserstadt, Simone und zwei Mitschüler werden aus der Schule herausgenommen, da jüdische und deutsche Kinder nun getrennt unterrichtet werden sollen. Die Eltern sind besorgt über die Entwicklung und bringen die Tochter bei einer befreundeten Familie unter, sie selbst suchen ebenfalls Unterschlupf. Sie möchten sich aufteilen, damit im schlimmsten Fall wenigstens einzelne von ihnen überleben. 


GENDER-THEMATIK

Man erfährt, wie Simone immer mehr von ihrer weiblichen Realität eingeholt wird. Als Kind noch kann sie sich gelegentlich unter die Jungs mischen, Handarbeiten in der Schule mag sie gar nicht, dafür aber Physik und Astronomie. Beim getrennten Sport mogelt sie sich so in die Reihe, dass sie wenigstens direkt hinter den Jungs laufen kann, sodass sie sich vorstellt, sie sei der letzte in deren Reihe. Sie erfährt, dass Jungs gelegentlich schlechter behandelt werden vom Lehrer (sie erhalten Prügel, während Mädchen öfter gelobt werden). Trotzdem empfindet sie sich als einer von ihnen. 

Je älter sie wird, desto häufiger erlebt sie, auf welche Weise Frauen diskriminiert und objektifiziert werden, sei es zum Kinderkriegen, als Sündenbock, als Sexobjekt, als Hausfrau am Herd. Männer dagegen stellen die Regeln, und wo Frauen bestraft werden, kommen Männer ungeschoren (wortwörtlich) davon. Sie selbst strebt danach, eines Tages zu studieren, selbständig zu werden, kann sich eine Zukunft mit Kind, Familie und Haushalt nicht vorstellen, der Gedanke an dieses ereignislose und sie unterfordernde Leben als Frau schreckt sie. 

Doch sie muss erleben, wie die Jungs sie ausgrenzen, wie Männer sie sexuell belästigen. Und in den harten Zeiten des Krieges, wo man sich auf engem Raum kaum aus dem Weg gehen kann, wird sie bereits stummer Zeuge vieler sexueller Aktivitäten um sie herum. 

Die Worte für all diese Gedanken und Eindrücke sind sehr schlicht gehalten. In den Momenten, die verletzend sind, drückt die Autorin nicht auf die Tränendrüse, heischt nicht um Verständnis, vielmehr spürt der Leser die Wut des Kindes / der Jugendlichen, ärgert sich über all die Ungerechtigkeiten, macht er sich ein eigenes Bild über die erstaunliche Klarheit, mit der Burnier die unwiderlegbare Ungerechtigkeit zwischen Frauen und Männern präsentiert.


FAZIT

Ein sehr kurzes, sehr schlichtes Buch. In seiner Schlichtheit umso eindringlicher, intensiver als mancher lange Roman es sein könnte. Der Leser begleitet Simone, erfährt viel über die Zeit eines jüdischen Kindes in den Niederlanden. Bis dahin war mir Burnier leider kein Begriff, aber sie ist eine unglaublich faszinierende Person, und dieser Titel wird sicher nicht mein letztes Buch von ihr sein! 

SaschaSalamander 01.08.2016, 18.00

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