SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Ich bin Gideon

KLAPPENTEXT

Gideon Nav reicht es. Sie hat genug von dem düsteren Planeten voller verknöcherter Nonnen, starrer Regeln und schwarzer Klamotten, auf dem sie aufgewachsen ist. Genug von einem Leben als Dienerin des Neunten Hauses. Vor allem aber hat sie genug von Harrowhark Nonagesimus, der Erbin eben jenes Hauses, die Gideon mit ihrer herrischen Art das Leben schwer macht. Also packt Gideon ihr Schwert und ihre Pornohefte ein, um endlich von diesem gottverlassenen Planeten zu verschwinden. Doch sie wird erwischt. Die Strafe für ihren Fluchtversuch ist unangenehm: Sie soll Harrowhark als Schwertmeisterin an den kaiserlichen Hof begleiten, wo diese, gemeinsam mit den Erben der anderen royalen Häuser, an einem Wettkampf auf Leben und Tod teilnimmt. Wenn sie den Untergang des Neunten Hauses und ihres Planeten verhindern wollen, müssen die beiden wohl oder übel zusammenarbeiten. Und das, obwohl sie einander auf den Tod nicht ausstehen können – oder?




VORAB

Puah, ICH BIN GIDEON war heftig. Ich sah das Cover, las den Klappentext, und ohne Leseprobe oder Vorabinfo wusste ich sofort: DAS muss ich haben. Ich hatte also extrem hohe Erwartungen, obwohl ich sonst so unbefangen als möglich an ein Buch herangehen möchte. Diese Erwartungen wurden weit, weit übertroffen. Ich will unbedingt eine Rezension schreibe, aber die könnte jetzt etwas ausufern - obwohl ich mich bereits zügle und gerne sehr viel mehr tippen würde. Dieses Buch hat mich in vielerlei Hinsicht geflasht. Ob ich das ebenso begeistert an Euch weitergeben kann, weiß ich nicht. Aber ich werde es zumindest versuchen.


AUTORIN

Zur Autorin Tamsyn Muir kann ich leider nicht viel sagen. ICH BIN GIDEON ist ihr Romandebut, und die Kurzgeschichten in Magazinen und Anthologien kenne ich nicht.


GENRE

Dieses Buch entzieht sich komplett jeglicher Einordnung. Es hat Elemente aus verschiedenen Genres, die zu kombinieren man sich kaum vorstellen kann. Es ist eine groteske Sci-Fi-Space-Opera mit Mittelalter-Flair, Militär, religiösen Kultisten. Postapokalyptischer Steampunk in Verbindung mit heute zeitgenössischer Technik trifft altmodische Magie und Aberglaube. Hinter Plexi-Trennwänden werden unter Zuhilfenahme modernster Technik alchemistisch anmutende Rituale mit Knochenmagie ausgeführt, es wird diskutiert über Physik, Philosophie, Spiritualität und Kriegsführung. Wiedererweckte Tote fliegen in Shuttles durch den Orbit. Hauptmann, Truchsess, Pilger, Vasallen, Adepten, Mystiker werden in einem Atemzug genannt mit elektrischen Zahnbürsten.

Auf nichts ist hier Verlass: inmitten der uralten Katakomben in der Krypta zwischen Ratten und Gebeinen finden wir plötzlich einen Steckdose, an der die Protagonisten ihr Touchpad aufladen können. Sprachlich wunderbar stimmig in Szene gesetzt: "die in den Wänden klaffenden Steckdosen wirkten wie Pockennarben"

Es gibt auch erotische Anteile, die Protagonist*innen sind nicht wählerisch und sind an Frauen oft ebenso interessiert wie an Männern, queere Anteile gibt es en masse. Passend zum Rest des Buches ist es aber nicht klischeebeladen oder gar romantisch, sondern ziemlich derb, gepackt in doppeldeutige Anspielungen. Eine Sexszene oder eindeutige Szenen wären aber zu billig, deswegen findet die Autorin auch hier ihre ganz eigenen Wege, Körper zu vereinen und Geist zu verschmelzen.

Sie baut eine geheimnisvolle, wuchtige Atmosphäre auf, um sie in einem Nebensatz ironisch zu zerstören. Nichts ist wie es scheint, und dann ist es wieder völlig anders. Die Lesenden werden hin und her geschüttelt, bis kein Krümel vertrockneter Hirnmasse mehr auf dem anderen bleibt.


CHARAKTERE

Die titelgebende GIDEON und ihre Herrin Harrowhark sind die Protagonistinnen der Geschichte. Beides sind extreme Charaktere, deren Komplexität zu Beginn bereits offensichtlich ist, sich im Laufe des Buches dann immer weiter verdichtet. Da das Buch aus Gideons Perspektive geschrieben ist, erfährt man über sie am meisten, Harrowharks Motive und ihr Innenleben erschließen sich erst gegen Ende des Buches.

Der Hass, den beide aufeinander verspüren und ausleben ist intimer als so manche klischeebeladene Romanze. Diese Leidenschaft, dieses alles verzehrende Feuer ist ungebändigt, sie hassen einander sosehr, dass sie ohne die jeweils andere nicht mehr sie selbst wären. Ihr Hass beflügelt sie, und für den Leser sind all die Beschimpfungen, Drohungen, Verwünschungen, Streiche und gegenseitigen Quälereien  ein absoluter Lesegenuss.

Die anderen Charaktere sind weniger intensiv ausgearbeitet, glänzen aber trotzdem mit sehr vielen Facetten und haben so einige Überraschungen zu bieten. Zum Glück gibt es eine Übersicht über alle Charaktere. Es gibt neun Häuser, die zu dem Wettbewerb antreten, in jedem Haus treten mehrere Charaktere auf. Schwierig wird es, dass viele Charaktere unterschiedliche Namensbezeichnungen haben (teils basierend auf ihren Zahlennamen der Häuser, teils Spitz- und Kosenamen, teils Beschreibungen ihrer Tätigkeit). Selbst mit dieser Übersicht war ich in Szenen mit vielen Figuren manchmal kurz davor, den Überblick zu verlieren.


SPRACHE

Die Sätze sind angenehm gestrickt: nicht zu komplex, nicht zu simpel. Idealer Lesefluss, um das von vorne bis hinten spannende Buch im Eiltempo durchzurauschen. Doch obwohl es sich sehr entspannt lesen lässt, sollte man dem Buch seine volle Aufmerksamkeit widmen, sonst entgehen viele kleine Leckerbissen.

Die Wortwahl ist stellenweise sehr derb, manchmal auch vulgär. Das wirkt jedoch nicht unangenehm oder gar übertrieben, sondern es fügt sich perfekt in die Atmosphäre des Buches. Die Handlung selbst ist derb und grotesk, da würden höfliche Blümchenwörter unpassend wirken. Die Autorin transportiert die Emotionen bildhaft, etwa in gegenseitigen Verwünschungen oder ungewöhnlichen Gegenüberstellungen. Die Metaphern sind dem Inhalt des Buches angepasst, die Tore des Schlosses etwa werden geschildert als "drei Leichname breit und sechs Leichname hoch", die Wettkämpfer gehen nicht in den Kellern sondern "tief in die Eingeweide des Palastes". Auch werden viele Wörter ungewöhnlich kombiniert oder erhalten eine Änderung ihrer Bedeutung, zB wenn Essen "herrlich grau und eklig" schmeckt oder eine Person beschrieben wird als "uralt aber hässlich".

Besonders gelungen finde ich, wie bei den vor Tod, Verwesung, Zerfall, Innereien, verrottenden Fleischklumpen und anderen ekligen Themen alles einer gewissen Faszination und Schönheit nicht entbehrt. Man muss sich auf etwas völlig Neues einlassen und erfährt, welche Feinheiten in einem Knöchelchen oder welch Duft in einer klebrigen, stinkenden Substanz zu finden sein können, wenn man es nur mit dem geschulten Auge einer Meisternekromantin betrachtet. Da kommt es eben vor, dass sich Personen um einen Behälter mit Asche scharen und diesen wie eine Schüssel Erdnüsse auf der Party kreisen lassen.

Die Autorin hat eine sehr kreative Art, Dinge zu beschreiben: Statt "ein Blick, der töten konnte" heißt es hier "sie starrte in die geladene und entsicherte Mündung einer Harrowhark".

Ich hatte das Hörbuch begonnen, bin dann aber sofort auf das Buch umgestiegen. Denn beim Hören sind mir viele Besonderheiten der Sprache entgangen, die ich dann im Buch umso begeisterter gefeiert habe.


AUFBAU, SETTING

Von der ersten Seite an ist das Buch extrem spannend: einmal angefangen saugt es die Lesenden sofort in seine Welt und lässt nicht mehr los. Die Kombination der vielen Gegensätze ist eine geniale Mischung, die ständig Abwechslung bietet. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie die Handlung vorangeht und was als nächstes passieren wird.

Die Welt, in der die Handlung spielt, wird nicht erklärt. Da sie sich wie oben geschildert jeglichem Genre entzieht, kann man sich auch nur schwer etwas zusammenreimen. Es bleiben also viele Fragen offen, und es gibt jede Menge "What the fuck", das die Autorin einfach ignoriert und dem Leser selbst überlässt. Man merkt klar, dass die Autorin ein Konzept im Kopf hat und sehr viele Hintergründe über ihre Welt hat, denn alles ist stimmig und fügt sich ineinander. Manches wird später erklärt, anderes dagegen nicht. Ich vermute, dass im zweiten Band weitere Informationen fließen werden, mit denen das Gesamtbild etwas runder wird. Dass es im ersten Band noch nicht ganz so rund ist, störte mich überhaupt nicht, es passt zum verschlossenen Neunten Haus uns dessen undurchsichtigen Bewohnern. Das Buch ist in seiner gelegentlichen Unklarheit also in sich stimmig und passend. Ich sehe das also nicht als Mangel sondern bewusst gewähltes Stilmittel. Die Autorin selbst hat nicht sinnlos "zusammengestopselt" sondern gezielt nur die jeweils nötige Info geteilt, während sie selbst im Hintergrund die Fäden in der Hand hält. Meisterlich!

So spannend alles ist - im zweiten von drei Akten beginnt es sich etwas zu ziehen. Das liegt vor allem daran, dass vieles sich am gleichen Ort abspielt und es haufenweise Diskussionen und Konflikte zwischen einzelnen Charakteren gibt (was bei so vielen Figuren recht anstrengend werden kann), Vermutungen und Realität werden gegenübergestellt, alles wird sehr verworren. Es wird ziemlich dramatisch, und der bis dahin tragende Witz wird nebensächlich, die Düsternis wird immer immer seltener aufgelockert und bald recht schwer.

Ich kann aber nicht sagen, wie man es hätte besser machen können. Denn man hätte die Information der Gespräche nicht in Handlung packen können, hätte die Verwicklungen untereinander nicht anders gestalten können. Es ist ein absolut notwendiger Inhalt des Buches. Und schlecht war es nicht, im Gegenteil. Im Ganzen betrachtet immer noch ein Meisterwerk. Aber verglichen mit dem humorvollen Anfang und dem temporeichen Ende bleibt der Mittelteil eben etwas zurück.


EIGENE MEINUNG

Während des Lesens habe ich mich sehr, sehr oft gefragt, wie jemand nur auf solch krasse Ideen kommen kann? Die Autorin quillt über von schrägen Gedanken, die morbide Faszination des Todes und Dahinsiechens, die Darstellung morbider, skurriler, grotesker und bizarrer Szenen sucht ihresgleichen. Und, wenn ICH das sage, will das wirklich etwas bedeuten, denn ich liebe solche verqueren düsteren Werke und habe schon so einige gelesen, gehört, gesehen. Mich auf dieser Ebene zu begeistern ist nicht leicht ;-)

Sehr gut finde ich, dass das Buch stellenweise enorm lustig ist, die Handlung und Charaktere damit aber nicht ins Lächerliche zieht. Es ist keine billige Komödie, kein seichter Humor, sondern trotz der Derbheit stellenweise recht feingeistig und vor allem sprachlich geschickt.

ICH BIN GIDEON ist ein Gesamtkunstwerk, dessen Inhalt und Humor sich nicht so einfach beschreiben lässt. Ein Zitat, eine Beschreibung können die Atmosphäre und das Besondere des Buches nicht wiedergeben. Vieles ergibt sich erst aus dem Kontext und kann seine volle Wirkung erst in Verbindung mit dem Rest entfalten.

Aber auch, wenn das Buch als Ganzes wirkt, und auch wenn man am Anfang noch keine Ahnung hat und einfach hineingeworfen wird - wem das erste Kapitel nicht gefällt, der wird wohl auch später nicht in das Buch hineinfinden. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Roman mit seiner höchst eigenwilligen Machart ziemlich polasiert.

Was mich überaus begeisterte war die Vielfalt der Nekromantie. Im ersten Moment denkt man ja "naja, halt Tote wiedererwecken". Jahahahaaaa, denkste! Jedes der Neun Häuser hat seine eigene Technik. Die einen sind spezialisiert auf die Seele, andere auf Knochen, die nächsten auf den Übergang - es ist enorm, wieviele Varianten sich die Autorin ausgedacht hat. So ausführlich und faszinierend wie hier habe ich es noch nirgends gelesen.

Für mich ist das Buch bisher das absolute Highlight 2020. Ich schließe natürlich nicht aus, dass etwas Besseres nachkommt und hoffe ständig auf solch besondere Perlen. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass es noch viele Monate lang das Beste bleiben wird, was ich zuletzt gelesen hatte.


FAZIT

ICH BIN GIDEON ist ein Buch, das mit nichts zu vergleichen ist. Wer es liest, der darf sich an kein Genre binden, keine Erwartungen hegen und muss sich vollständig den abgefuckten Ideen der Autorin hingeben. Wer dazu bereit ist, wird ein gewaltiges Abenteuer erleben!

SaschaSalamander 17.06.2020, 08.38

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