SaschaSalamander

Ausgewählter Beitrag

Bevor alles verschwindet

INHALT

BEVOR ALLES VERSCHWINDET von Annika Scheffel ist kein klassischer erzählender Roman, dessen Handlung man fortlaufend folgen kann. Insofern ist es auch nicht möglich, eine reguläre Inhaltsangabe zu schreiben. Doch der Inhalt selbst ist folgender: die Bewohner leben in einem kleinen Dorf im Tal, leben ihren Alltag. Eines Tages kommen fremde Männer, sie planen dasDorf zu fluten für einen Staudamm. Die Bewohner haben nun alle ihre Möglichkeiten, hierauf zu reagieren, und der Leser erlebt in einzelnen kleinen Episoden, welche Kräfte sie entwickeln, welchen Zauber das Tal offenbart und wie die Menschen daran wachsen oder zugrundegehen.


AUTORIN

Annika Scheffel ist Jahrgang 1983, studierte Teaterwissenschaften und schreibt Romane und Drehbücher. 2010 erschien ihr Debutroman BEN, den ich noch nicht kenne, der inzwischen aber auf meiner Wunschliste steht :-)


ERZÄHLWEISE, CHARAKTERE

Das Besondere an BEVOR ALLES VERSCHWINDET ist die Erzählweise. Nicht chronologisch und linear, sondern kleine Episoden. Sie erzählen von den Erlebnissen einzelner Bewohner, deren Wahrnehmung der Situation und ihr Umgang damit. Da gibt es die alte Frau, die regelmässig das Kreuz auf dem Kirchturm poliert. Den Bürgermeister Wacho, dessen Beziehung zum Sohn keine förderliche ist. Seinen Sohn David, der einen unsichtbaren Freund erschafft. Mona, die über besondere Kräfte verfügt. Marie, die schon als Kind weiß, dass sie eines Tages eine Heilerin sein wird. Und all die anderen.

Die Tracks sind in Kapitel unterteilt, benannt nach den jeweiligen Protagonisten und der Zeitspanne vor der Flutung. Mit Voranschreiten der Kapitel rückt nun auch das Verhängnis immer näher, unabwindbar. Dass es geschehen wird, erfährt der Leser bereits im ersten Kapitel sowie durch einige Zeitsprünge und Visionen in den ersten Tracks.

Wenngleich die Kapitel auf einzelne Protagonisten abzielen, erfährt man in dieser Zeit auch sehr viel über die anderen Personen. Sie alle haben eng verwobene Schicksale, das Erleben des einen beeinflusst das Geschehen beim anderen. Sie leben gemeinsam im Tal, sie gehören zusammen, und gemeinsam gehen sie nun auf ihr Ende zu.


SYMBOLIK, SPRACHE

Die Sprache, die Worte selbst sind klar und eindeutig, doch die Aussage dahinter ist tief, unergründlich tief, manchmal schon etwas zu tief. Eine eindeutige Interpretation gibt es nicht, und jeder Leser wird seine eigenen Erfahrungen während des Lesens machen müssen / dürfen.

Das Buch hat eine enorme "Dichte", in jedem Satz schwingt eine Bedeutung, die Aussage verbirgt sich oft in einem winzigen Nebensatz. Der einfache Schreibstil und die hohe Dichte sind ein interessanter Kontrast, die eine ganz besondere Faszination auf den Leser ausüben. Annika Scheffel ist es gelungen, Fiktion und Realität auf eine Weise zu mischen, die den Leser verwirrt, begeistert und irritiert. Sie schreibt surreale Dinge so leichtfüßig und glaubwürdig, als wären sie real, und auf diese Weise malt sie ein völlig neues Bild der Realität, die sein könnte, genau hier in diesem kleinen Ort. Wer kann uns das Gegenteil beweisen?

Wenn man im Hörbuch auch nur für zwei oder drei Sätze abschweift, kann es sein, dass man grundlegend wichtige Details überhört und sich plötzlich nicht mehr zurechtfindet. Ich habe zum Vergleich das erste Kapitel als Leseprobe gelesen, nachdem ich die erste CD gehört hatte. Beides hat seinen Reiz (zum Vortrag des Hörbuches gleich ein eigener Abschnitt), doch der geschriebene Text zeigte, dass mir, obwohl ich aufmerksam gelauscht hatte, kleine wichtige Momente für das Verständnis entgangen waren.


SPRECHER, HÖRBUCH

Martin Baltscheit spricht die Lesung, er ist sehr gut gewählt. Seine ruhige, dunkle Stimme ist angenehm zu hören, und er strahlt eine Gelassenheit aus, die zu dem Buch passt, als wäre es nur für ihn und seine Stimme geschrieben worden.

Die Schwierigkeit dabei ist, dass er einzelnen Charakteren keine eigene Stimme, keine eigene Melodie und Persönlichkeit verleiht. Dadurch werden - was ja im Buch möglicherweise auch beabsichtigt ist, das kann ich nicht beurteilen - die Charaktere zwar aufgrund ihrer Handlungen und Personen unterschiedlich, und doch irgendwie gleich. Alle sind verbunden, gehören zusammen. Das erschwert das flüssige Hören, ist jedoch sehr kunstvoll. Was die Dichte des Buches ausmacht, wird durch Martin Baltscheit somit verstärkt: es ist kein Hörbuch für zwischendurch. Es erfordert, dass man sich hinsetzt, es bewusst hört und sich auf nichts anderes konzentriert. Es fordert Aufmerksamkeit. Respekt für den Ort und seine Bewohner, die dem Untergang geweiht sind.


MEIN PERSÖNLICHER EINDRUCK

Ich habe den falschen Moment erwischt. Es ist ein Buch, das man nicht jeden Tag, jede Woche hören kann. Man muss dafür "in Stimmung" sein, um es entsprechend zu würdigen. Ich bin sehr schnell versunken in dieser faszinierenden Welt, doch ich hatte wenig Gelegenheit, länger darin zu verweilen, wurde schnell abgelenkt von anderen Dinge, die im Moment um mich sind. Auch die Ähnlichkeit mancher Namen (Milo und Wacho, Jules und Jula, Marie und Mona etc) ließ mich gelegentlich abschweifen und falsche Schlüsse ziehen, wenn eine der Personen auftauchte.

Das Hörbuch hat mich sehr fasziniert. Umso mehr finde ich es schade, dass die hohe Dichte, die vielen Namen, die geballte Symbolkraft mich momentan so schwer erreichen konnten. Es liegt also auf meinem Bücherstapel, damit ich es bald ein zweites Mal genießen kann, um es dann komplett zu würdigen. Ich freue mich bereits darauf. Momentan fühlte ich mich eher erschlagen von den Bewohnern und all den vielen Symbolen ...

Auch, wenn es etwas komplett anderes ist, musste ich hier und da an Murakami denken: die >WILDE SCHAFSJAGD< habe ich begonnen, fand mich das erste Mal nicht ein, war aber fasziniert. Ein andermal begann ich zu lesen, und dann hatte ich es in zwei Stunden durch, war völlig begeistert, seitdem gehört es zu  meinen Favoriten und er zu meinen liebsten Autoren. Außerdem ähneln sich die Bücher darin, dass auch bei Scheffel die Fiktion so unauffällig nebenbei in die Handlung gewebt wird, als wäre auch sie Teil unser realen Welt. Schafe, die sprechen, Landschaftsgemälde mit Schafen, aus Bildern erwachende Menschen, blaue Füchse auf einem Kinderbild. Und nur unser Verstand trennt die wunderbare Fantasie von der grauen Realität ... warum nicht einfach den Verstand über Bord werfen und sich ganz versenken in diese unglaubliche Welt?


FAZIT

Fiktion? Realität? Symbolträchtig webt die Autorin eine Geschichte, die den Leser verzaubert und die Grenzen zwischen Imagination und Realismus verschwimmen lässt. BEVOR ALLES VERSCHWINDET ist ein Buch, das man nicht immer lesen kann. Doch wenn man gerade die Muse hat, sich auf eine dichte Handlung ohne linearen Verlauf einzulassen, darf man sich dieses zauberhafte Buch auf keinen Fall entgehen lassen.


SaschaSalamander 23.05.2013, 08.53

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